Das letzte Schuljahr. Wilfried Baumannn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Baumannn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847687450
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gingen.

      „O, ja, das ist gut.“

      Lange warteten sie zum verabredeten Termin vor dem Kino. Sie verstanden nicht, warum sie sich nicht vor dem Hotel treffen sollten. Der Mann, mit dem sie sich in der Kirchgemeinde unterhalten hatten, kam nicht.

      Carolin wollte ihren Mann bewegen, nicht mehr länger zu warten und zu gehen. Da rannte ein Sportler, nur mit einer kurzen Turnhose bekleidet, am Kino vorüber. Zuerst beachteten die Beiden ihn nicht, doch dann erkannten sie in ihm den Bekannten. Er winkte ihnen heimlich mit einer knappen Handbewegung, und sie folgten ihm. An der Ecke parkte ein weißer Dacia, dessen Fahrer sie sofort einsteigen hieß. Es war der Pfarrer der Gemeinde. Der Bekannte zog sich so schnell wie möglich im Wagen Hemd und lange Hose an und fragte:

      „Folgt uns jemand?“

      „Nein, es scheint alles gut gegangen zu sein.“

      Noch unverständlicher war es für sie, dass sie lange Zeit vor dem Neubaublock, in dem der Bekannte wohnte, im Auto sitzen mussten und erst aussteigen durften, als „die Luft rein“ war. Auch im Fahrstuhl und Treppenhaus musste alles geräuschlos und ohne Aufsehen vor sich gehen.

      „Bitte entschuldigen Sie unser absonderliches Verhalten. Bei Ihnen zu Hause wird das wahrscheinlich als unnormal empfunden. Hier aber darf ein Rumäne unangemeldet keine Ausländer empfangen. Das ist streng verboten.“

      Müllers waren sehr betroffen. Hoffentlich hatten sie die beiden Männer aus der von ihnen besuchten Kirche nicht in Gefahr gebracht.

      Die rumänischen Christen schütteten nun ihr ganzes Herz aus. Müllers erfuhren, dass rumänische Autobesitzer nur zehn Liter Benzin im Monat verbrauchen durften. Dem Pfarrer schenkten seine Gemeindemitglieder hin und wieder Benzin, damit er Alte und Kranke besuchen konnte. Dann brach die ganze angestaute Not heraus. Die Kinder bekommen kaum Milch. Es fehlt an Grundnahrungsmitteln wie Eier, Butter, Obst und Gemüse um vom Fleisch gar nicht zu reden. Der Stromverbrauch ist beschränkt. Ein Mehrverbrauch wird bestraft.

      Der Kirchgemeinde fehlte es vor allem an rumänischen Bibeln. Es dauerte lange, bis sie weiter sprachen. Die beiden Rumänen staunten nur, dass in der DDR der Verkauf von Bibeln nicht verboten war, und es sogar kirchliche Zeitungen gab.

      Dann erzählten sie stockend und erregt, dass sie einen Ring aufgebaut hätten um rumänische Bibeln über die Grenze zu schmuggeln. Über Familienväter mit vielen Kindern hatte die Securitate in den Ring einbrechen können. Diese Väter sind verhaftet und zur Mitarbeit in der Securitate gezwungen worden. Ihnen wurde angedroht, die eigenen Kinder wegzunehmen und in ein Heim zu bringen. Aus Angst ist auch die letzte Bibelverteilung verraten worden. Die Bibeln kamen über die sowjetische Grenze und gelangten in die Gemeinde von Botošani, einer Stadt östlich von Suceava. Während des Gottesdienstes wurde die kleine Kirche von Securitate-Leuten umstellt und alle Gottesdienstbesucher verhaftet.

      Die Sicherheitsleute wollten alle geschmuggelten Bibeln haben. Trotzdem konnten einige Exemplare versteckt und in Sicherheit gebracht werden. Viele der Verhafteten wurden geschlagen und gefoltert.

      „Sagt bitte unseren ausländischen Freunden, dass sie erst wieder Bibeln schicken sollen, bis ein neuer Verteilungsring aufgebaut ist. Jetzt ist es sehr gefährlich.“

      Mit aller Vorsicht, für die sie nun Verständnis hatten, verließen sie das Haus.

      „Wissen Sie,“, sagte der Pfarrer, als er an Kindern vorbeifuhr, „Ceaucescu hat Antikonzeptionsmittel verboten. Daher kommt unser Kinderreichtum. Aber wie sollen die Kinder bei dem mangelnden Angebot ernährt werden? Das ist unser größtes Problem. Für die Securitate ist es das beste Erpressungsmittel, um Familienväter gefügig zu machen. Sie droht nämlich damit, die geringen Vergünstigungen zu streichen, falls sie die Mitarbeit verweigern.“

      Er schaute in den Rückspiegel und wurde nervös:

      „Uns folgt ein Dacia mit gelber Nummer … Dem HERRN Jesus sei Dank. Er ist abgebogen.“

      „Sagen Sie,“, fragte Müller, um von dem soeben überstandenen Schrecken etwas abzulenken, „warum sieht Suceava so eigenartig neu aus?“

      „Hier wurde alles, was an die deutsche und österreichische Vergangenheit erinnerte, abgerissen. Dasselbe machen sie auch mit den Dörfern. Eingeschlossen in diese ganze Kampagne sind auch ungarische Ansiedlungen. Ich persönlich empfinde das als Verbrechen und bin empört darüber.

      Ceaucescu ist ein Albtraum für das ganze Volk“, antwortete der Pfarrer bitter.

      Müller erinnerte sich an den Preußenwahn Ulbrichts, dem das Berliner Stadtschloss und die Garnisonskirche von Potsdam zum Opfer gefallen waren.

      Sie tauschten im Wagen noch ihre Adressen aus, verabredeten sich aber wegen des damit verbundenen Risikos nicht mehr.

      Nachts im „Arcašul“ konnte Horst lange nicht einschlafen. Er musste immer wieder an die Worte des Pfarrers denken. Vieles, was er im Land erlebt hatte, war ihm auf einmal erklärbar. Da hörte er draußen einen Wagen vorfahren. Horst ging zum Fenster und erblickte einen Lieferwagen, dem einige Männer entstiegen, die mit Kalaschnikows bewaffnet waren. Kurz darauf verschwanden sie im Hotel. Hier schliefen sie nun also, in einem Nest der Securitate.

      Die am folgenden Tag in einem schwarzen Dacia mit gelber Nummer durchgeführte Fahrt zu den Moldauklöstern, von denen eins schöner als das andere war, erfreute beide wenig. Der freundliche Fahrer war bestimmt ein Securitate-Mann. Umso erstaunter waren sie, einen schwarzen Dacia mit gelber Nummer zu sehen, der von einer Nonne gefahren wurde. Jetzt fiel es ihnen auch auf, dass ihr Fahrer bei vielen ihrer Aufenthalte in den Klöstern verschwand und sich eifrig mit den Nonnen unterhielt.

      Am letzten Tag in Suceava hatten sie beim Hotel eine Zeitlang Menschen beobachtet, die in einen Laden gingen und nicht heraus kamen. Neugierig geworden gingen Horst und Carolin ebenfalls hinein. Es war eine Fleischerei. In den Regalen, Vitrinen und auf den Fleischhaken war buchstäblich nichts zu sehen, nicht einmal der kleinste Krümel. Die Menschen standen und warteten mit leeren Augen apathisch auf die eventuell eintreffende Ware. Vielleicht wollten sie auch nur den Geruch des Fleisches einatmen, der von der letzten Lieferung übrig geblieben war.

      Im Hotel brachten sie kaum einen Bissen des köstlich zubereiteten Steaks herunter, da es ihnen wie ein Diebstahl am rumänischen Volk vorkam. Der schwarze Dacia mit der gelben Nummer ließ auf sich warten. Es war derselbe Fahrer, der sie zu den Klöstern gefahren hatte. Er grinste nur, als ihm Horst Vorhaltungen wegen der Verspätung machte. Kurz vor dem Flugplatz fuhr der Wagen plötzlich auf ein Betriebsgelände.

      „Der Chef will mitfahren“, erklärte der Fahrer.

      Horst sah in eine Halle mit einem Röhrensystem für Fernheizungsanlagen hinein. Einige Gestalten huschten dort herum und sahen immer wieder zu ihnen hinüber.

      In Müller kroch die Angst hoch. Ob sie von ihrem geheimen Treffen wussten? Endlich kam der Chef, stieg mit ein, und sie rasten zum Flugplatz, wurden dort bevorzugt abgefertigt und bis zum Abflug beobachtet.

      In Bukarest angekommen, wollten sie noch einmal einen kleinen Stadtbummel unternehmen. Sie gingen in die Gassen neben den Boulevards, um die Geschäfte zu sehen. Der Gestank, der ihnen entströmte, war widerlich.

      Auf einem Marktplatz waren gerade Eier eingetroffen. Sie waren zu 25 Stück auf speziell dafür hergestellten Papptabletts geliefert und übereinander gestapelt worden. Der Andrang der Käufer war enorm. Jeder wollte gleich ein ganzes Papptablett mit Eiern kaufen. Der Verkäufer jedoch wollte nur die Eier herausgeben. So sahen sie eine Frau, die ganz verzweifelt weinte, weil der zerschlagene Inhalt aus ihrem Campingbeutel tropfte. Das war bei dem Gedränge unvermeidlich. Ein Mann wollte die Eier in den Kofferraum seines Autos verstauen, sollte aber kein Eiertablett mitgeliefert bekommen.

      Da kam in ihm die ganze aufgestaute Wut zum Ausbruch, und er ging auf den Verkäufer los.

      Die Szene wurde brenzlig, und Müllers zogen es vor weiterzugehen.

      Da sahen sie, was ihnen schon in Suceava aufgefallen war: Zwei Streifenpolizisten hielten auf der Straße eine Frau an und verlangten, den Inhalt der Einkaufstasche