Steine dienten als Hüter und Wächter und grenzten bestimmte Zonen ein und ab. Heute sind manche Menschen der Meinung, Steine verstärken und halten Energien.
Besitzt ein Ort viel Energie, wird das durch einen einzelnen Stein angezeigt, der dort errichtet wurde. Ein Kreis aus vielen Steinen, das sind meist unbehauene Findlinge, hält ein ganzes Kraftfeld. Die heute noch bestehenden Steinkreise wurden vermutlich aus unterschiedlichen Gründen geschaffen: für Rituale, als Gerichts- oder Ratsplätze, zur Beeinflussung von Wetter und Ernte durch entsprechende Rituale oder als Ort, an dem zu festen Zeiten der Jahreszyklus, also die Sommer- und Wintersonnenwende, gefeiert wurde.
Ich habe in einem meiner Bücher eine Anleitung gefunden, wie man sich einem derartigen Kraftplatz nähern soll. Durch Abstreifen oder auch Abschütteln, also mit entsprechenden Gesten, soll der Alltag zurückgelassen werden, bevor man langsam und voller Achtung diesen Ort betritt. Dabei müssen Gefühle beachtet werden, ob man willkommen ist oder nicht. Verspürt man Wärme, ist das ein Willkommensgefühl. In dem Fall kann man sich freuen und weitergehen. Ein Gefühl der Kälte oder ein Frösteln, möglicherweise auch eine seltsame Unruhe, weisen darauf hin, dass man nicht willkommen ist. Dann ist es besser, sich zu bedanken und sofort umzukehren.
In vielen Steinkreisen hat einer der Steine die Aufgabe als »Wächterstein« zu dienen, der diese Gefühle bewirkt. Da jeder Stein eine ganz bestimmte Aufgabe und Schwingung besitzt, kann man bei einer Wanderung innerhalb des Steinkreises unterschiedliche Energien spüren. Dort, wo man sich am wohlsten fühlt, soll man innehalten und mit geschlossenen Augen Bilder in seinem Kopf entstehen lassen. Das sind Botschaften, die Aufmerksamkeit benötigen, um interpretiert zu werden oder die die Heilung einer Krankheit bewirken können.
Der Steinkreis kann also die körpereigenen Energien anregen. Sobald man sich nicht mehr wohlfühlt, ist es Zeit zu gehen, nachdem man sich bedankt hat. Kraftplatzbesuche sind ein Prozess des Gebens und Nehmens! Es muss darauf geachtet werden, dass zwischen dem Menschen und dem Kraftplatz ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen existiert. Zusammengefasst ergibt sich daraus:
Ein Kraftplatz gibt zu erkennen, ob man willkommen ist
Vor und nach jedem Aufenthalt begrüßt oder verabschiedet man sich von dem Platz
Blumen, Früchte oder Nüsse können als kleine Opfergaben dargebracht werden
Mit einem Kraftplatz muss respektvoll und verantwortungsbewusst umgegangen werden
Kraftplätze sind keine Orte, um Probleme abzuladen, sie können aber helfen, sie zu lösen
Nach einem Besuch bedankt man sich bei dem Platz, dass er den Zugang zu seiner Energie gewährt hat
Ich glaube, das ist alles, was ich weiß.«
Jetzt herrscht Schweigen im Raum. Raban muss das Gehörte erst überdenken und einordnen. Sogar Röiven verhält sich still. Finnegan steht leise auf und bereitet neuen Kakao, mit dem er kurz darauf zurückkommt.
»Wow, Opa. Da hast du aber eine Menge Informationen über Steinkreise gesammelt.«
»Angeregt durch die Zeitungsberichte habe ich in allen meiner Bücher nach Erklärungen für die seltsamen Vorgänge gesucht. Einige Bücher habe ich mir in der Bibliothek unseres Ortes geliehen, aber darin fand ich nichts, was ich nicht schon wusste. Ich habe sogar überlegt, in die Hauptstadt zu reisen und im Museum noch weitere Informationen zu beschaffen. Vielleicht ist das eine gute Idee, um nach dem alten Volk zu suchen. Hey, das können wir ja gemeinsam machen. Was meinst du?«
»Wenn ich das richtig bedenke, ist das Aufsuchen eines Steinkreises durchaus sinnvoll, wenn man ein Problem lösen möchte oder auch, um Heilung von einer Krankheit zu bewirken. Opfergaben können das unterstützen. Das passt aber keineswegs dazu, dass Tieropfer in verschiedenen Steinkreisen dargebracht und jetzt auch noch Symbole auf die Steine gemalt wurden. – Ja, wir sollten morgen früh einen Besuch im Museum machen, wie beim letzten Versuch, ein Rätsel zu lösen. Danke, Opa. Ich hole dich morgen früh ab. Also erschrick nicht, wenn ich plötzlich in deinem Wohnzimmer erscheinen werde.«
»Kein Problem, mich schockt so schnell nichts. Aber musst du denn überhaupt zurück? Du kannst doch auch hier schlafen.«
Raban lässt sich nicht lange bitten, was Finnegan glücklich strahlen lässt. Der Junge informiert seine Mutter schnell übers Telefon, die ihm gerne zustimmt.
Rückkehr in die Hauptstadt
Der Tag geht bereits dem Abend entgegen, als sich ein kleiner Trupp Berittener der Hauptstadt nähert. Sie folgen müde der staubigen Straße und befürchten schon, das Stadttor geschlossen vorzufinden. In diesem Fall müssten sie erneut auf die Annehmlichkeiten weicher Betten verzichten und stattdessen eine weitere Nacht auf dem harten Boden schlafen, mit nichts als ihren Sätteln als Kopfkissen und ihren Umhängen zum Zudecken. Doch die Reiter haben Glück. Als sie nahe genug sind, um in der Dämmerung Einzelheiten erkennen zu können, klären sich die Mienen von sechs von ihnen auf. Vor der Stadtmauer ducken sich mehrere, kleinere Häuser, die mit Stroh gedeckt sind. Diese sind aber so klein, dass sie darin keinen Platz für die Nacht gefunden hätten. Darin wohnen Familien, deren einziger Reichtum in einer großen Anzahl Kinder besteht. Doch das Tor steht noch weit offen. Als ob alleine dieser Anblick ihre Lebensgeister weckt, jauchzen sie auf und treiben ihre Pferde zu einer letzten Anstrengung an.
Doch dies trifft nicht auf die restlichen drei Reiter zu. Zwei von ihnen sitzen mit hängenden Köpfen auf ihren Pferden und starren mit finsteren Blicken nach unten. Wenn es nach ihnen ginge, könnte der Ritt noch Tage dauern, denn ihnen droht nichts Gutes in der Stadt. Ihre Hände sind mit Stricken an die Sättel gefesselt und einer von ihnen trägt einen sauberen Verband um seinen linken Oberschenkel. Die Zügel ihrer Pferde sind mit längeren Riemen an die Sättel anderer Reiter gekoppelt, so dass ihnen das Entkommen während eines Ritts unmöglich ist. Vielleicht bekämen sie bei einem weiteren Nachtlager in der Wildnis doch noch die erhoffte Gelegenheit, ihren Häschern zu entkommen, was aber nun aussichtslos ist. Dieser Trupp besteht also aus den sechs Jägern, dem Sucher und den gefangenen Verbrechern.
Dass sich die beiden Gefangenen nicht freuen, da ihnen die Todesstrafe droht, ist einleuchtend. Aber warum freut sich Kenneth nicht, nach diesem mittlerweile sechs Tage dauerndem Ritt, wieder in die Zivilisation heimzukehren? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Dies ist die Hauptstadt der Darkwings, dem zahlenmäßig größten Volk im Land. Ihr herrischer König besitzt eine Residenz innerhalb der Stadtmauern. In seinem Besitz befindet sich aber auch eine mächtige Festung, die einen Tagesritt entfernt liegt.
Diese Anlage gehörte einst Kenneths Vorfahren, die die Führer des mittlerweile verstreut lebenden Volkes der Fairwings waren. Nach einem verlorenen Krieg, der über mehrere Jahrzehnte zwischen diesen beiden Völkern um die Vorherrschaft im Land geführt worden war, wurden sie von dort vertrieben. Seitdem leben einige von ihnen in den Wäldern und Steppen, wo sie notgedrungen zu Überlebenskünstlern geworden sind. Viele haben sich aber auch mit den Siegern arrangiert und wohnen innerhalb der starken Stadtmauern der Hauptstadt.
Obwohl der Krieg inzwischen fast 100 Jahre her ist, führen sich einige der Darkwings den Nachkommen der Verlierer von damals gegenüber als Herren auf. Besonders die Angehörigen der Oberschicht neigen zu dieser unangebrachten Arroganz. Nach dem Sieg der Darkwings, die nicht deshalb so heißen, weil sie fast durchweg dunkelhaarig sind, sondern weil schwarze Drachenflügel ihr Wappensymbol bilden, wurde den Verlierern des Krieges gestattet, sich in einem eng begrenzten Bezirk der Stadt einzukaufen, um dort zu siedeln. Es liegt auf der Hand, dass dieser Bereich und dessen Bewohner immer argwöhnisch von den Darkwings beobachtet wurden, um ein Erstarken der ehemaligen Feinde und einen möglichen Aufstand frühzeitig zu verhindern. Seltsamerweise haben die Fairwings, die einen rötlichen Vogel mit gelben Schwingen als Wappensymbol haben, nie einen weiteren Krieg gegen ihre Bezwinger begonnen.