Dreizehn Jahre dauerte mein humanitäres Engagement in Nepal. Hindus und Buddhisten leben dort friedlich mit Moslems und Christen zusammen, doch der Buddhismus faszinierte mich von Anfang an. Die Lehre eines Fürstensohns namens Siddhartha Gautama ist keine Religion, denn sie kennt keinen Gott. Der ursprüngliche Buddhismus ist, recht verstanden, Philosophie und Anleitung für ein gelingendes Leben. Buddha lehrte den mittleren Weg, das Meiden der Extreme, maßvollen Genuss und das Kultivieren von heilsamen Gedanken. Gier, Hass und Unwissenheit sind die negativen Gegenkräfte, sie hindern uns Menschen daran, glücklich und zufrieden zu sein. Ich habe fleißig meditiert, in buddhistischen Klöstern gelebt, den Unterweisungen nahezu erleuchteter Lehrer gelauscht und sogar mehrmals für den Dalai Lama gearbeitet. Sieben Jahre gab der Buddhismus mir Halt und dennoch wendete ich mich schließlich ab. Selbstverständlich könnte ich gute Gründe für meine Entscheidung anführen. Die Konkurrenzkämpfe der verschiedenen buddhistischen Schulen untereinander, obwohl Buddha schon zu Lebzeiten vor einer Spaltung der Gemeinschaft warnte; den Aberglauben an Geister, eine Hölle der Verdammnis und andere obskure Ideen speziell im tibetischen Buddhismus; dazu Machtmissbrauch und menschliche Schwächen, wie sie uns aus der katholischen Kirche nur allzu vertraut sind – aber das wären Ausflüchte.
Für die Abkehr vom Buddhismus sorgte im Grunde mein Saboteur. Erst vor wenigen Jahren – eine depressive Episode ließ mich erneut therapeutische Hilfe suchen – erkannte und benannte ich diesen Teil meines Ichs. Er existiert in mir wie ein Geschwür oder ein Bandwurm, zehrt von meiner Lebenskraft und tritt immer dann auf den Plan, wenn es mir zu gut geht. Zu gut im dem Sinne, dass mir ja aufgrund des vor Jahrzehnten gefällten Urteils und der Schuld, die seit dem Tod meiner Mutter auf mir liegt, kein Lebensglück zusteht. Das Bild vom Engelchen und Teufelchen, die auf den Schultern jedes Menschen sitzen, ist sicherlich bekannt. Die beiden liegen meist im Streit miteinander, mischen sich ständig ein, reden zu oder raten ab. Ich glaube nicht an Götter, Engel oder Teufel. Doch in mir existiert ein Saboteur, der wie ein boshafter Steuermann immer wieder das Ruder herumreißt, sobald mein Lebensschiffchen in ruhiges Gewässer oder gar in die Nähe einer idyllischen Insel gerät.
Das Wort Saboteur stammt vom französischen sabot, dem Holzschuh. Angeblich warfen empörte Arbeiter während der industriellen Revolution ihre Holzschuhe in Mäh- und Dreschmaschinen, und brachten sie so zum Stillstand. So protestierten sie gegen die zunehmende Mechanisierung der Arbeit. Wo vorher viele Menschen von Hand mit Sense und Dreschflegel arbeiteten, ratterten nun Maschinen. Zu ihrer Bedienung waren nur noch wenige Arbeiter nötig und Armut breitete sich aus, daher die Empörung.
Mein Saboteur hat die Aufgabe, mir das Leben zur Hölle zu machen und mich der gerechten Strafe zuzuführen, denn dazu habe ich ihn vor langer Zeit bestimmt. Nicht bewusst und wissentlich, sondern durch den Urteilsspruch meines inneren Richters. Den Saboteur gibt es nur, damit ich für meine Schuld büße. Ja, das klingt sicherlich ziemlich verrückt. Zum Glück bin ich an diesem Widerspruch noch nicht irre geworden. Und erfreulicherweise hatte ich bisher genug Kraft, um mich gegen den Saboteur zu wehren, denn er arbeitet sehr gewissenhaft. Seine Aufgabe ist erst erfüllt, wenn ich tot bin. Bis dahin muss er Glück und Liebe verhindern, muss Kummer und Einsamkeit herbeiführen. Auch wenn es ihm gelingt, mich in den Freitod zu treiben, hätte er sein Ziel erreicht, hätte mich und seinen Auftrag erledigt. In den letzten Jahren fehlte manchmal nicht viel daran.
Ich bin ein Wiederholungstäter
Schallplatten aus Vinyl sind kaum noch gebräuchlich, aber wer noch einen Plattenspieler besitzt, kennt den Effekt, wenn die Platte einen tiefen Kratzer hat: Die Nadel des Tonabnehmers bleibt hängen und es erklingt immer wieder dieselbe kurze Sequenz, abgespielt während einer Umdrehung des Plattentellers. Man könnte auch den CD- oder MP3-Player auf Repeat schalten und hört dasselbe Lied immer wieder von neuem. So ähnlich verlief mein Leben bisher, eine stete Folge von Wiederholungen. Nicht ganz so stereotyp wie in dem populären Film ‚Und täglich grüßt das Murmeltier’, aber nach einem festen Schema. Dass ich dieses Muster schließlich erkennen konnte, verdanke ich guten und geduldigen Psychotherapeuten, die mich verständnisvoll unterstützt und immer wieder ermutigt haben. Doch Verstehen heißt noch nicht Überwinden. Bisher wirkt der Wiederholungszwang weiter.
2002 und 2003 befasste ich mich intensiv mit Coaching und begann sogar eine kostspielige Ausbildung an einer privaten Akademie. Mich faszinierten die Techniken, mit denen ein Coach seine Klienten bei der Lösung ihrer Probleme unterstützt und sie zu veränderter Selbstwahrnehmung führt. Coaching erschien mir als optimale Alternative zur Psychotherapie. Dies vor allem, weil Coaching schnell wirkt, während Therapie meist viele Jahre dauert. In der Coachingausbildung wurde stets betont, dass alle Menschen jederzeit die freie Wahl haben und auch ihre Lebensumstände wählen. Kummer und Leid, Glück und Erfüllung – alles eine Folge von Entscheidungen, die wir unbewusst treffen, uns aber bewusst machen können. Akzeptiere die Macht deines freien Willens und werde zum Herrscher über das eigene Schicksal – so etwa könnte man die Philosophie zusammenfassen, die an jener Privatschule gelehrt wurde.
Ist es wirklich so einfach, ein glückliches und erfolgreiches Leben zu führen? Wie frei sind wir tatsächlich in unseren Entscheidungen? Berufs- und Partnerwahl, Gesundheit und Lebensglück – lässt sich das alles vom Kopf her steuern? Wohl kaum, wie wissenschaftliche Erkenntnisse belegen. Wir verlieben uns in eine Person, deren Ausdünstung von kaum wahrnehmbaren Botenstoffen signalisiert, dass ihr Immunsystem robust ist und sich von unserem eigenen deutlich unterscheidet. Letzteres ist genetisch vorteilhaft und erhöht die Überlebenschancen von gemeinsamem Nachwuchs. Elementare Entscheidungen und Weichenstellungen für das ganze Leben werden also nicht vom Verstand getroffen, sondern vom limbischen System, einem Teil des Gehirns, der nicht zum Bewusstsein gehört. In manchen Situationen, zum Beispiel unter Stress oder bei Gefahr, entscheidet sogar jener uralte Bereich unseres Nervenzentrums, der als Reptiliengehirn bezeichnet wird. Kampf oder Flucht – da kann nicht lange überlegt und abgewogen werden, also nutzen wir uralte Instinkte.
Der viel gepriesene freie Wille ist offenbar gar nicht so frei, wenn unbemerkt eingeatmete Duftstoffe und in der Steinzeit eingeübte Verhaltensmuster derartige Macht über uns haben. Die Bielefelder Akademie schloss mich übrigens nach einem Dreivierteljahr von der Coachingausbildung aus, und dieses Los traf nicht nur mich. Wer zu oft kritische Fragen stellte oder bezweifelte, dass jeder Mensch zum Millionär werden kann und man sich sogar schwerste Schicksalsschläge bereitwillig aussucht, bewies Unreife. Wer so dachte, wollte offenbar nicht den maximalen Nutzen aus der Lehrmethode ziehen oder hatte nicht begriffen, dass jeder Mensch immer die freie Wahl hat.
War wieder der Saboteur am Werk, als ich aus der Coachingausbildung flog? Ich hatte viel Zeit und eine Menge Geld investiert, wollte mich beruflich neu orientieren und als selbständiger Coach meinen Lebensunterhalt verdienen. Nun stand ich abermals vor einem Scherbenhaufen. Zeitgleich scheiterte meine bisher vorletzte Beziehung zu einer Frau. Sie war 39 und ich 44 Jahre alt, wir wünschten uns Kinder und dafür wurde es höchste Zeit. Über eine Kontaktanzeige lernten wir uns kennen und sie verliebte sich schon beim ersten Treffen heftig in mich. Mich traf Amors Pfeil nicht sofort ins Herz, aber ich fand sie sehr sympathisch und attraktiv. Außerdem war ich entschlossen, Kompromisse zu machen. Dabei hatte ich ein chinesisches Sprichwort im Kopf. Es lautet: ‚Derjenige, der alles haben will, steht am Ende mit leeren Händen da.’ Also gewöhnte ich mich an ihre schrille Stimme und ein paar Eigenheiten und war froh, dass ich wieder lieben konnte und geliebt wurde.
Nach einer Weile stellten wir einander bei unseren Eltern und Geschwistern vor, denn wir wollten heiraten. Deshalb suchten wir auch ein passendes Haus, um dort eine Familie zu gründen. Endlich schien der Zug meines Lebens in geregelten, wenn