Im April 1961 heiratete mein Vater erneut, eine junge Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie war erst dreiundzwanzig und damit zehn Jahre jünger als ihr Ehemann. Auch meine Stiefmutter zog nach der Hochzeit in das Haus am Wald, weil sich der Bau unseres neuen Domizils verzögerte. So lebten wir fast ein halbes Jahr zu siebt unter einem Dach, heute würde man wohl von einer Patchworkfamilie sprechen. Kurz vor meinem dritten Geburtstag war ein Reihenhaus, das mein Vater gekauft hatte, endlich bezugsfertig und ich musste mich von der Mama-Tante verabschieden. Das wird uns beiden nicht leicht gefallen sein, schließlich hatte sie mich fast drei Jahre liebevoll umsorgt. Damit ich die Trennung hinnahm und um meiner Stiefmutter die neue Rolle leichter zu machen, erklärte mein Vater Folgendes: Deine Mama ist nicht deine Mutter, sondern deine Tante. Deine Mutter ist tot, aber jetzt bekommst du eine neue Mutter, die Mutti Karen. Verwirrend für mich, wenn auch verständlich aus Sicht der Erwachsenen, sollte diese seltsame Offenbarung meine Zukunft prägen. Urvertrauen und Geborgenheit, die Fähigkeit zu verlässlichen Bindungen – das und mehr fehlte mir. Die Sehnsucht nach Liebe war groß, aber der Baum meines Lebens trug kaum Früchte, weil die Wurzeln verletzt waren.
Nein, ich mache niemandem Vorwürfe. Die zweite Frau meines Vaters – sie wurde bereits auf der Hochzeitsreise schwanger und brachte im Februar 1962 meine Schwester zur Welt – hat mich an Mutterstelle angenommen und gut für mich gesorgt. Sie war noch recht jung und sicherlich auch überfordert, denn nach der Geburt meines Bruders im Februar 1964 musste sie drei Kinder aufziehen. Die ungewohnte Mutterrolle, Probleme mit dem aufmüpfigen Stiefsohn und dazu die hohen Erwartungen eines anspruchsvollen Gatten, der in Wirtschaftswissenschaften promovierte und rasant Karriere machte – all das unter einen Hut zu bringen, stelle ich mir schwierig vor. Insofern überrascht es wohl kaum, dass die zweite Ehe meines Vaters scheiterte und die beiden 1982 geschieden wurden.
Doch ich möchte noch auf eine wichtige Phase eingehen, die fünf Jahre zuvor begann. Nach dem Abitur im Jahr 1977 – ich war zwar nicht dumm, hatte aber weder genug Ehrgeiz noch konkrete Berufspläne, und beendete meine Schulzeit mit einer Durchschnittsnote von 3,0 – jobbte ich und reiste durch halb Europa bis nach Marokko. Im Herbst begann ich eine landwirtschaftliche Lehre und brach sie noch in der Probezeit ab. Grund waren Zwistigkeiten mit meinem Lehrherrn. Er und seine Frau bewirtschafteten den Hof mit je zwei landwirtschaftlichen und hauswirtschaftlichen Lehrlingen plus zwei Praktikanten. Täglich wurden uns unbezahlte Überstunden abverlangt. Wir sechs kamen alle von weither aus großen Städten, denn in der Umgebung war längst bekannt, wie schlecht der Bauer mit Auszubildenden umging. Als ich ihn schließlich höflich darauf ansprach, dass im Lehrvertrag täglich acht Stunden Arbeit vereinbart waren, wir aber meist zwölf Stunden arbeiten würden und daher Anrecht auf mehr Geld oder Freizeitausgleich hätten, schmetterte er mich auf Platt ab: „Verträge, datt sünd Städtermanieren. Datt gifft et bi us nich.“ Anders gesagt: Nix da, auf dem Land gelten andere Regeln. Als ich eine Woche später das heikle Thema erneut anschnitt und wieder eine schroffe Abfuhr bekam, packte ich meine Sachen und kündigte.
Meine Begeisterung für Ackerbau und Viehzucht war sieben Jahre zuvor entstanden. Als Dreizehnjähriger fand ich eine Ersatzfamilie, einfache und bodenständige Leute, bei denen es sehr herzlich zuging. Heinz und Lene Oltmann hatten drei Kinder und bewirtschafteten einen kleinen Bauerhof in jenem niedersächsischen Dorf, wo mein Vater Mitpächter des Jagdreviers war. An einem langweiligen Ferientag saß ich dort am Stoppelacker und beobachtete den Bauern und seinen Sohn, wie sie goldgelbes Stroh zu eckigen Ballen pressten und auf einem schwankenden Anhänger immer höher aufstapelten. Irgendwann sprachen mich die beiden an, ich durfte auf den Hänger klettern und im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten mithelfen. Das war der Beginn einer herzlichen Beziehung, die lange anhielt und in mir den Wunsch weckte, selbst Landwirt zu werden. Von jenem ersten Sommer an verbrachte ich alle Schulferien bei den Oltmanns und kehrte auch dorthin zurück, nachdem ich die Lehre geschmissen hatte. Meine Stiefmutter war nämlich recht froh gewesen, als ich endlich auszog, denn ich hatte ihr als pubertierender Bengel und rotzfrecher Oberschüler ziemlich zugesetzt. Folglich war mir der Weg ins heimische Kinderzimmer verbaut und ich fuhr nach der Kündigung zurück aufs Dorf.
Unter dem Damoklesschwert
Heinz Oltmann besaß keinen Meistertitel und durfte daher nicht ausbilden, ansonsten wäre ich gern als Lehrling bei ihm geblieben. Leider erkrankte er bald an Lungenkrebs und verstarb viel zu früh. Auch deswegen kehrte ich nachhause zurück, lebte wieder unter dem elterlichen Dach und hangelte mich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten. Das schaute sich mein Vater nicht lange an und sorgte dafür, dass ich eine Lehre als Reiseverkehrskaufmann begann. Also renovierte ich eine kleine Mietwohnung im Bremer Steintorviertel, zog dort ein und trat am ersten September die Ausbildung bei Hapag-Lloyd an. Unvergessen sind die Worte meines Vaters an diesem bedeutsamen Tag: „Mein lieber Sohn, wenn du auch diese Lehre hinschmeißt oder Hapag-Lloyd dazu bringst, dass man dir kündigt, dann sind wir geschiedene Leute. Dann kannst du von mir weder Nachsicht noch Unterstützung erwarten, sei dir darüber im Klaren.“ Acht schreckliche Monate hing das Damoklesschwert über mir, bis mein Vater endlich den Bannfluch zurücknahm und mir erlaubte, auch diese Lehre abzubrechen.
Was war geschehen? Eigentlich nichts Dramatisches. Jeden Morgen zog ich meinen dunklen Anzug an, knüpfte den Windsorknoten in eine passende Krawatte und fuhr mit der Straßenbahn zum Reisebüro. Dort saß ich mit einer altjüngferlichen und ziemlich biestigen Ausbilderin hinter dem Tresen und vor einem Regal, in dem mindestens fünf Meter Aktenordner standen. Darin abgeheftet die Tarife sämtlicher Staats- und Privatbahnen aus ganz Europa. Von früh bis spät verkauften wir Bahnfahrkarten oder Fährtickets und suchten für Kunden komplizierte Zugverbindungen heraus. Ein stinklangweiliger Job. In der Berufsschule eckte ich an, weil ich in eigenhändig gefärbten Latzhosen erschien, statt mit Schlips und Kragen. Vom Gymnasium war ich selbständiges Denken und Handeln gewohnt, doch nun musste man die Lehrer kleinlaut bitten, um während des Unterrichts austreten zu dürfen, statt einfach zur Toilette zu gehen. Der Geschichtslehrer schwärmte von mannigfaltigen Segnungen, die das deutsche Volk dem völlig zu Unrecht verkannten Adolf Hitler verdanken würde, und auch sonst wehte ein vollkommen anderer Wind. Als einziger Abiturient unter lauter sechzehnjährigen Mädchen war ich ein Außenseiter und machte mich durch Aufmüpfigkeit unbeliebt.
Die Kunden im Reisebüro mochten mich und auch mit den meisten Kollegen kam ich gut klar, aber meine Ausbilderin hasste ich bald fast so sehr wie den Job überhaupt. Nach Dienstschluss riss ich die Krawatte herunter und lief auf dem Heimweg oft laut singend durch den Park, um all den aufgestauten Druck ablassen zu können. In den Winterferien, ich fuhr mit meinen Geschwistern zum Skifahren nach Österreich, hatte ich einen Nervenzusammenbruch und weinte stundenlang in unserem Pensionszimmer. Einerseits deprimierte mich die Vorstellung, bald wieder Bahnfahrkarten verkaufen zu müssen oder in der Berufsschule gemobbt zu werden. Dies wurde noch verstärkt durch das Damoklesschwert der väterlichen Drohung. Andererseits spürte ich immer klarer, dass mit mir etwas nicht stimmte, ich seelisch krank war. Phasen der Melancholie und des Lebensüberdrusses häuften sich und ließen mich zweifeln, ob ich je ein glückliches und erfülltes Leben führen würde. Hinzu kam in besonders schwermütigen Phasen eine erschreckenden Todessehnsucht. Da ich mit sechzehn Jahren die Jägerprüfung abgelegt hatte und zwei Gewehre nebst Munition besaß, bestand ein hohes Risiko, ich könnte meiner Mutter in den Freitod folgen. Es wurde also dringend Zeit für radikale Veränderungen.
Die begannen im Mai 1979, als mein Vater endlich ein Einsehen hatte und mir erlaubte, die Ausbildung bei Hapag-Lloyd abzubrechen. Der Büroleiter versuchte zwar noch, mich umzustimmen, aber mein Entschluss stand fest. Andauernd lächeln und höflich sein, auch zu unfreundlichen Kunden, idiotischen Berufsschullehrern und meiner sauertöpfischen Ausbilderin; die Rivalität und versteckten Gemeinheiten zwischen den Kollegen; der Zwang zur Verkleidung mit Anzug und Krawatte – ich konnte und wollte es nicht mehr ertragen! Am Tag nach der Kündigung