Mitten im Winter veranstaltete die Poliklinik einen Massage-Workshop. Zusammen mit zwei Dutzend Menschen fand ich mich im großen Saal ein, der gemütlich eingeheizt war. Wolldecken lagen auf dem Boden, Kerzen flackerten und Duftlampen verströmten die angenehmen Aromen von Rose, Lavendel und Sandelholz. Eine junge Frau war engagiert worden, um uns die Grundlagen einfacher Massagetechniken zu erklärte. Die Physiotherapeutin zeigte Griffe und Bewegungen, erläuterte die Grundlagen und forderte uns schließlich auf, selbst aktiv zu werden. Wir fanden uns jeweils paarweise zusammen und zuerst massierte ich einen Mann. Dann, nach etwa einer halben Stunde, wechselten wir und ich legte mich auf die Wolldecke. Etwas unsicher, aber mit behutsamen Bewegungen lockerte er meine Muskeln, knetete und massierte Schultern und Rücken. Es dauerte keine zehn Minuten, bis mich ein Schluchzen schüttelte und die Tränen nur so strömten. Nein, er hatte keine verborgenen Energiezentren oder Akupunktur-Meridiane gereizt, und mir auch nicht weh getan. Im Gegenteil. Zu erleben, dass ein Mensch mich liebevoll berührt und mir nur gut tun will, war einerseits wunderschön, andererseits kaum auszuhalten. Auch durch dieses Erlebnis wurde mir schmerzlich bewusst, wie sehr ich Nähe, Zärtlichkeit und Geborgenheit im bisherigen Leben vermisst hatte. Mein Vater – nach Mutters Tod schließlich der Mensch, der mir am nächsten stand – tut sich leider bis heute schwer mit Nähe und Weichheit, und auch meine Stiefmutter schmuste kaum mit mir.
Nach Abschluss der dreiwöchigen Intensivphase verließ ich den umgebauten Landgasthof und zog in eine Landkommune nahe Isny. Eine Mitpatientin lebte dort zusammen mit Freunden und lud mich ein. Acht Monate wohnte ich auf dem kleinen Bauerhof, versorgte das Vieh, hackte Holz und schaufelte Schnee, viel Schnee. Nachts schlief ich auf dem Dachboden in einer zugigen Knechtskammer. Später, als die klirrenden Nachtfröste unerträglich wurden, stattete ich sie mit einem Kanonenofen aus. Zwei oder dreimal pro Woche fuhr ich nach Seibranz und nahm dort abends an Gruppensitzungen teil. Allerdings war ich nicht so konsequent, wie es mir gut getan hätte. Der nachlassende Leidensdruck und meine seelische Genesung ließen mich übermütig werden. So trank ich gelegentlich mehr Alkohol als mir gut tat, und begann auch wieder mit dem Kiffen. Der Konsum von Haschisch und Marihuana kann sehr angenehme Zustände erzeugen, Menschen aber auch seelisch destabilisieren und sogar schwere Psychosen auslösen. Bei mir sorgten Joints und Pfeifchen zwar nur für Entspannung und gute Laune, ließen mich jedoch auch die Therapie vernachlässigen. Heute bin ich sicher, dass ich zu früh aus der Primärtherapie ausgestiegen bin, aber damals kam ein Punkt, an dem ich das ewige Jammern, Klagen, Wüten und Weinen satt hatte. Ich wollte endlich unbeschwert leben, voller Lust und Freude, wollte zuversichtlich nach vorn schauen, statt ständig Leidvolles aus der Vergangenheit zu durchleben.
Im Mai 1981 verließ ich das Allgäu und radelte mit Zelt und Luftmatratze quer durch die Alpen nach Banyoles in Spanien. Dort nahm ich an einem Pantomime-Workshop teil und verliebte mich in eine junge und sehr schöne Frau. Ironischerweise war sie die einzige von über sechzig Teilnehmerinnen, die aus Bremen stammte, von wo ich ein Jahr zuvor gen Süden aufgebrochen war. Judith hatte sich bereits an einer Bremer Theaterschule beworben und ich folgte ihrem Beispiel, nachdem wir im August aus Katalonien zurückkehrten. Das Resultat der zweitägigen Auswahlprüfungen fiel jedoch anders als erhofft aus. Judith wurde abgewiesen, mich hingegen nahm die Schule auf. Es war wie verhext, denn schon in Banyoles hatte Judith großes Pech. Am ersten Tag des dreiwöchigen Workshops brach sie sich den Fuß und konnte viele Übungen nicht mitmachen, weil ihr Bein bis zum Knie in Gips steckte. Unsere Beziehung währte nicht lange, denn bald nachdem sie vom Theater abgelehnt worden war, ging Judith nach Berlin. Auch sie war übrigens als junges Mädchen sexuell missbraucht worden und hatte daher große Schwierigkeiten, Zärtlichkeiten und intime körperliche Nähe zu ertragen. Das war besonders tragisch, weil wir beide große Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit hatten. Wir verloren uns aus den Augen und ich weiß nicht, ob sie je professionelle Hilfe fand. Damals war sie entschlossen, ihr Leben ohne Psychotherapie zu meistern. Hoffentlich ist es ihr gelungen.
Bis zum Beginn der zweijährigen Theaterausbildung wohnte ich wieder zuhause, denn ich hatte meine erste eigene Wohnung vor Beginn der Primärtherapie gekündigt. Die zweite Ehe meines Vaters lag bereits in Scherben und das Klima im Haus war meist sehr angespannt. Meine Schwester ging auf ein Internat und ich bekam ihr Zimmer, das direkt über dem Elternschlafzimmer lag. Die Trennung von Judith, schwer erträgliche häusliche Spannungen, Müßiggang in den Wochen vor dem Ausbildungsstart und täglicher Cannabiskonsum sorgten dafür, dass ich mein mühsam erreichtes seelisches Gleichgewicht schnell wieder verlor. Wie eine dunkle Wolke schob sich die Depression heran und verdüsterte alles. Ich verbrachte fast jeden Tag allein auf meinem Zimmer, kiffte, sah fern und grübelte. Schließlich kam der Tag der Wahrheit. Ich hatte alles total satt und war meines Lebens wieder so überdrüssig, dass ich am liebsten tot sein wollte. In einem Anfall von Wut und Verzweiflung warf ich meine Stereoanlage gegen die Wand, tobte, schrie und weinte. Mein Vater kam herauf und fragte, was los sei. Ich brüllte ihn an, er solle rausgehen, mich in Ruhe lassen, es hätte sowieso alles keinen Sinn.
Offenbar erlitt ich erneut einen Nervenzusammenbruch, auch wenn ich es damals nicht so genannt hätte. Jedenfalls war mein Vater nach diesem Vorfall derart besorgt, ich könne mir etwas antun, dass er am nächsten Tag die Wahrheit über den Tod meiner Mutter gestand. Viel erzählte er nicht, aber trotzdem war ich wie vor den Kopf geschlagen. Schon so viele Jahre glaubte ich, Mutter sei bei meiner Geburt an Komplikationen gestorben. Daraus hatte ich in kruder Logik einen Vorwurf konstruiert, der mich schwer mit Schuld belastete: Wenn ich nicht zur Welt gekommen wäre, würde sie noch leben. Im Grunde hatte ich sie also auf dem Gewissen und es konsequenterweise nicht verdient, glücklich zu sein und ein erfülltes Leben zu haben. Sicherlich stammen meine Depressionen zum Teil aus dieser Quelle. Sie wurden ausgelöst von der irrationalen Schuldzuweisung eines Kindes, das sich für den Tod seiner Mutter verantwortlich fühlt. Mancher wird jetzt vielleicht sagen, das solche Gedanken blödsinnig sind, aber leider empfand ich trotzdem diese Schuld.
Einerseits war ich dankbar, dass mein Vater endlich die Wahrheit gesagt hatte, andererseits wütend und fassungslos. Wieso hatte er so lange geschwiegen und warum die sinnlose Lüge sogar dann noch aufrecht erhalten, als klar wurde, dass ich seelisch krank war und bereits therapeutische Hilfe in Anspruch nahm? Hätte er nicht spätestens zu Beginn meiner ersten Psychotherapie eingestehen müssen, dass seine Frau sich vergiftet hatte? Nicht alle Lügen haben kurze Beine, manche halten erstaunlich lange durch, werden hartnäckig am Leben erhalten. Bis zum Alter von 23 Jahren glaubte ich, dass meine Mutter noch leben würde, wäre ich bloß nicht geboren worden. Die Lüge hatte sich zum Fluch entwickelt und lag auf mir wie eine unsinnige und erdrückende Bürde, raubte mir die Kraft zum Leben.
Meine Welt schien völlig aus den Angeln gehoben, als wäre eine Bombe geplatzt. Wenige Tage nach dieser Enthüllung fand ich eine kleine Wohnung, nicht weit von der Theaterschule entfernt, und verließ mein Elternhaus mit Sack und Pack. Ein Jahr später wurde der Bungalow samt großem Garten verkauft. Danach gab es kein Zuhause mehr, keinen Ort, an dem wir Geschwister zusammen unter einem Dach gelebt hatten. Die Illusion, Teil einer halbwegs intakten Familie zu sein, war endgültig zerstört. Mein Bruder wohnte nun bei seiner Mutter, unsere Schwester lebte in Bayern, der Vater in Oldenburg – die Familie war zerrissen und im halben Land verstreut.
Schuld ohne Sühne
Von da an verlief mein Leben ziemlich unstet. Ein Jahr verbrachte ich als Schauspielschüler an einem Theater der alternativen Bremer Kunstszene. Vormittags Körperarbeit, Improvisation und Tanz, nachmittags Dramaturgie, Maskenbildnerei, Rhythmik und andere Fächer. Die Ausbildung wurde von einer alten Schwedin geleitet, die selbst in Paris bei Marcel Marceau gelernt hatte: Anfänglich war ich sehr begeistert, tauchte ein in die aufregende Theaterwelt und erkannte meine Vielseitigkeit und Ausdruckskraft. Es tat gut, Anerkennung und Applaus zu bekommen, denn von Zuhause war ich