muss.«
Anschudar seufzte. Der alte Schwingenführer hatte recht. Zögernd zog er
den ledernen Sattel unter dem Arm hervor und reichte ihn dem Alten. Die
Sitzfläche war kaum zwei Handflächen groß und weich gepolstert, während
die Steigbügel plump und massiv von ihren Lederriemen hingen.
»Wir sind bald da, Anschudar«, meinte Mordeschdar. »Glaube mir, ich
kann gut nachvollziehen, wie du dich jetzt fühlst. Mir erging es nicht anders,
als ich meiner Lederschwinge zum ersten Mal begegnete.«
»Vielleicht werde ich sie gar nicht zu Gesicht bekommen«, seufzte der
Jüngere und tastete sich weiter den eisigen Pfad entlang.
»Mag sein«, brummte Mordeschdar. »Wenn deine Schwinge schlüpft und
gut aus dem Ei kommt, muss sie noch den Sturz überstehen. Viele sind daran
schon gescheitert.«
Das war eigentlich Anschudars größte Angst. Von klein auf war er zum
Schwingenreiter erzogen worden. Nicht alle Männer seines Volkes waren
dazu auserkoren, eines Tages den Bund mit einem dieser Wesen einzugehen.
Man musste über die Fähigkeit der Verbindung verfügen, durch die man die
Gedanken der Flugwesen spürte, wenn man ihre Haut berührte. Als er zum
ersten Mal aus eigener Kraft auf seinen Beinen stehen konnte, hatten seine
Eltern ihn zur Feedanaa gebracht, der Hüterin des Horstes. Sie hatte
Anschudars Gaben erkannt und über seine Zukunft bestimmt. Doch all seine
Erziehung und sein theoretisches Wissen würden vergebens sein, wenn das
für ihn bestimmte Flugwesen zu Tode stürzte.
Anschudar blickte nach oben. Nur wenige Längen noch, und sie hatten
endlich den Gipfel des Geburtsfelsens erreicht. Diese höchste Erhebung des
Uma’Roll fiel zu einer Seite steil ab. Gute eineinhalb Tausendlängen ging es
dort hinab in die Tiefe. Dieser Abgrund würde über das Schicksal seiner
Lederschwinge und Anschudars Zukunft entscheiden.
Ein Stück über sich sah er das schwarze Rund des Eises. Anschudar
bemerkte den Schatten, der über ihn fiel, und spürte einen leichten Luftzug,
als das Muttertier dicht neben ihnen am Pfad vorbeistrich. Ihre ledrigen
Schwingen bewegten sich auch hier, in der dünnen Höhenluft, mit anmutigen,
sanft wirkenden Bewegungen. Sie hatte ihr Ei bebrütet und nun, da der
Schlupf unmittelbar bevorstand, behutsam auf dem Geburtsfelsen abgelegt.
»Sie ist sicherlich ebenso aufgeregt wie du, mein Junge.« Mordeschdar
nickte unter seinem Helm und der Kapuze. »Auch für sie hängt viel davon ab.
Es muss schwer sein, ein Junges zu verlieren.«
Anschudar konnte das verstehen. Die Lederschwingen empfanden um den
Tod eines ihrer Jungen nicht weniger Trauer als die Menschen des Volkes um
den ihrer eigenen Kinder. Er sah erneut auf das Ei. »Ich glaube, es ist gleich
so weit, Schwingenführer. Das graue Netz breitet sich aus.«
»Dann sollten wir uns beeilen«, knurrte Mordeschdar. »Du musst deine
Hände an die Schale legen, bevor sie bricht.«
Die Schale begann sich unmerklich zu öffnen. Mit den zahlreichen
Sprüngen, die ihre Oberfläche überzogen, wirkte sie, als habe man ein graues
Netz darübergeworfen. Lederschwingen hatten keinen Eizahn, mit dem sie die
dicken Schalen öffnen konnten. Sie mussten ihre Körpermuskeln anspannen
und die Schwingen ausbreiten, um das Ei zu zersprengen. Die Natur hatte es
so eingerichtet, damit das Wesen bereit war, sofort nach der Geburt zu
fliegen.
Erneut strich das Muttertier um den Geburtsfelsen, und dieses Mal stieß es
einen leisen Schrei aus, der die Männer zur Eile mahnte. Hastig kletterten sie
den Pfad hinauf, bis sie endlich auf dem winzigen Gipfelplateau des
Geburtsfelsens standen. Sie achteten nicht auf die Höhe, in der sie sich
befanden. Sie waren es gewohnt, in die Tiefe hinabzusehen. Sei es vom
Boden ihres Hortes aus oder vom Rücken einer Lederschwinge.
Das Plateau maß keine zehn Längen im Durchmesser und war nahezu
kreisrund. Der Boden war von den Lederschwingen sorgfältig geglättet und
anschließend gebrannt worden, damit kein spitzer Stein die Hülle eines Eis
beschädigen konnte. Eine kräftige Bö hätte die beiden Männer einfach vom
Felsen heruntergewischt, aber der Wind ging gleichmäßig, als Anschudar mit
einem langen Schritt an das Ei herantrat, während Mordeschdar am Ende des
Pfades verharrte. Es mochte an die fünf Längen hoch sein und deren zwei im
Durchmesser haben. Anschudar zog die gefütterten Handschuhe aus und legte
die klamm werdenden Hände an die Schale des Eis. Sie fühlte sich warm an
und vibrierte leicht. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis es so weit
war.
»Es ist groß«, murmelte Anschudar.
»Ja, das ist es. Wenn du Glück hast, wirst du auf einer außergewöhnlichen
Schwinge reiten können. Doch beeile dich. Du musst nun ihren Namen
denken«, mahnte der Schwingenführer. »Rasch, bevor sie schlüpft.«
Gedanken waren intensiver, wenn man sie in Worten formulierte. Das
hatte sich Anschudar gut eingeprägt. »Flieg, Showaa, meine Lederschwinge.
Flieg.«
»Showaa?« Mordeschdar nickte beifällig. »Ein guter Name. Wollen wir
hoffen, dass …«
Es knackte hörbar, und Anschudar trat instinktiv zurück. Andächtig
starrten die beiden Männer auf das Ei. Die Linien des grauen Netzes
verbreiterten sich rasend schnell, Spalten entstanden. Auch das Muttertier
hatte diesen entscheidenden Augenblick erfasst. Elegant schwang es herum
und glitt sachte heran. Ihre muskulösen Beine berührten die Männer fast, als
sie dicht über ihre Kapuzen hinwegstrichen und dann mit wohldosierter Kraft
gegen die zerbrechende Schale stießen.
Vom