„Wenn du mit uns kommst, wird dir niemand etwas weg nehmen. Alle sind gleich.“ erklärte der Mann nun. Thomas zuckte die Schultern.
„Und wenn ich sie auch nicht mag?“
„Niemand wird dich zwingen deine Gefühle zurück zu halten. Wir würden dich deswegen nie weg geben.“
Thomas sah den Mann skeptisch an.
„Es macht dir Spaß, anderen weh zu tun, oder?“ Der Mann nickte langsam und lächelte. „Es ist interessant. Eine Wissenschaft für sich, dieses Gefühl, anderen Schmerz zufügen zu können. Es hat dir das Gefühl gegeben stärker zu sein, oder? Dieses Gefühl von Macht.“
Thomas wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Nun öffnete sich die Tür wieder und der Einrichtungsleiter und Mistress Bruce kamen zurück in den Raum. Der Leiter sah Thomas lächelnd an. „Ich denke, du könntest dich bei ihnen sehr wohl fühlen, Thomas. Mistress Bruce erzählte mir gerade von der tollen Schule, die du in ihrer Nähe besuchen könntest. Sie wäre wie geschaffen für dich. Möchtest du den Tag mit ihnen verbringen, um sie besser kennen zu lernen?“ Thomas schüttelte den Kopf. „Ich möchte mit ihnen gehen.“
Der Leiter der Einrichtung wirkte etwas verwundert und überrascht. Er sah das Paar zögernd lächelnd an, dann sah er wieder zu Thomas. „Bist... bist du dir sicher? Das ist keine Entscheidung die man mal eben so trifft“ „Ich mag sie. Mister Bruce ist wirklich nett.“
Thomas kannte diesen Mann nicht. Und doch hatte er das Gefühl, er würde ihn verstehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war da jemand, der wusste wie sich Thomas fühlte. Es war besser als das hier. Besser als dieses Heim, dachte Thomas. Hier wo ihn jeder nur verachtend ansah und Angst um die anderen Kinder hatte. Dort würden Mister und Mistress Bruce sicher keine Angst deswegen haben.
Thomas war sich sicher. Es würde anders werden, als in seiner letzten Pflegefamilie, aber es würde ihm gut gehen, da war er sich sicher.
Mister Bruce konnte genau sagen, wie es ihm damit ging. Er hatte das ausgesprochen, was Thomas nur zu denken gewagt hatte. Wer mochte schon jemanden, der einem etwas wichtiges weg nahm? Und genau das war es, was seine Entscheidung fest stehen ließ. Thomas fühlte sich zu ihm verbunden. Egal wie viele Familien hier auch ein und aus gingen, sie waren es, wo Thomas hin gehörte.
Und so ging alles auch ganz schnell. Das Jugendamt wurde informiert, Formulare wurden ausgefüllt, Erlaubnisse wurden eingeholt. Und dann war Thomas schon auf dem Weg in sein neues zu Hause. An einen Ort, an dem er sich nicht verstellen, verstecken, oder für seine Gefühle und Handlungen schämen musste. An einen Ort, an dem er verstanden wurde. Und an einen Ort, an dem mehr so waren wie er, als er dachte.
6
Februar 2000
Miss Tenner schob die vielen Ordner auf dem Beifahrersitz ihres Mercedes zur Seite und suchte nach dem Ordner des Klienten, dessen zweiten Besuch sie abstattete. Der Erste war einige Monate her, kurz nachdem Dennis im August zu der netten Familie gekommen war. Familie Reacher im Fall Dennis Lloyd, dachte Miss Tenner und fand nun endlich unter dem Stapel die richtige Akte.
Sie schob den schmalen Ordner in ihre Tasche, holte einen Kugelschreiber aus dem Handschuhfach und stieg aus. Doch schon beim Aussteigen fiel ihr etwas bedenkliches auf. Es war sechs Uhr am frühen Abend. Natürlich war es möglich, dass die Familie bei einem spontanen Besuch nicht zu Hause war und deswegen kein Wagen in der Einfahrt des schönen Hauses stand. Doch es waren eher die leeren Fenster, die sie stutzen ließen.
Keine Gardinen und der Blick durch die nicht verdeckten Fenster ließen in die kahlen Räume blicken, die von der Straße aus sichtbar waren. Miss Tenner fragte sich, ob die Familie umgezogen war. Sie kramte den Ordner aus ihrer Tasche und blätterte nach. Eigentlich war die Familie dazu verpflichtet einen Umzug zu melden. Vielleicht hatte sie diese Meldung übersehen oder vergessen. Doch beim Durchblättern des Ordners wurde schnell klar, dass kein Umzug vermerkt war.
Sie kramte ihr Handy hervor und wählte die Handynummer des Familienvaters. Kein Anschluss unter dieser Nummer, ein schrilles Tuten ertönte. Nun ziemlich irritiert, versuchte sie es auch auf der Nummer der Frau, doch es war das Gleiche. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Sie schob das Handy weg und ließ die Tasche in ihrem Wagen, ehe sie auf das Haus zu steuerte. Immer wieder sah sie sich um und fühlte sich etwas beklommen. Hoffentlich hielt sie niemand für einen Einbrecher.
An den Fenstern angelangt warf sie einen Blick in des Innere das Hauses. Es war fast völlig ausgeräumt. Vereinzelte Möbel standen noch vereinsamt an den Wänden. Doch der Rest war weg. Aber wie sollten sie das geschafft haben? Sie sah sich sorgfältig um, ging von Fenster zu Fenster. Doch in jedem Raum war es das selbe. Alle waren sie nahezu vollkommen leer.
„Kann ich Ihnen helfen?“ rief nun ein älterer Mann vom Nachbargrundstück, der einen Müllbeutel in der Hand hielt. Miss Tenner nickte, wusste aber nicht so recht wo sie anfangen sollte. Sie wich von den Fenstern zurück und ging dem Mann entgegen. Sie räusperte sich nervös. „Die Familie, die hier gelebt hat... ich wusste nicht, dass sie umgezogen waren“
Der alte Mann nickte keuchend, scheinbar fiel es ihm schwer sich auf den Beinen zu halten. „Da müssen sie aber lange keinen Kontakt mehr gehabt haben.“ Er zeigte auf das Haus. „Das Haus steht schon seit fast fünf Monaten leer.“
Miss Tenner keuchte entsetzt. Fünf Monate? Wie um Himmelswillen war das möglich? Sie versuchte ihre Fassung wieder zu erlangen und hakte weiter nach. „Und wissen Sie, wo die Familie hingezogen ist?“
Der Mann schnaubte. „Sie sind so plötzlich und schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren“ „Plötzlich, sagen Sie?“
Sie begann zu grübeln. Laut der Papiere besaß die Familie das Haus schon seit sieben Jahren. „Wann genau war die Familie in das Haus eingezogen?“ „Mhh“, er grübelte, „Das muss Ende Juli gewesen sein... ja.“ Er nickte. „Das war kurz nach dem Geburtstag meiner Frau.“
Miss Tenner begann die Aussage des Mannes anzuzweifeln, obwohl er einen klaren Eindruck machte. Aber so war es manchmal mit älteren Menschen. Sie brachten Dinge und Daten durcheinander. Wie sonst sollte das möglich sein? Sie hatten ihr die Papiere gezeigt. Alles. Ihre Eheurkunde, die Kaufpapiere des Hauses. Und sie hatte es in den Datensätzen überprüft. Das sie erst im Juli eingezogen sein sollen, ergab keinen Sinn. „Wo ist die Familie hingezogen?“, fragte sie nun erneut.
Obwohl sie schon die Vermutung hatte, dass es sinnlos war, das zu fragen, sollte er wirklich verwirrt und senil sein.
Er schüttelte den Kopf. „Das weiß ich wirklich nicht. Sie haben über Nacht das Haus verlassen.“ „Über Nacht?“
Miss Tenner schnaubte und zweifelte das Gedächtnis des Mannes nun wirklich an. Es war zwecklos mit ihm zu reden. Wie sollten sie über Nacht ihre Möbel ausräumen und in einen Umzugswagen, oder wo immer sonst hin, verstaut haben?
Miss Tenner sah sich auf der Straße um und hielt Ausschau nach anderen Nachbarn, die sie fragen könnte.
„Stand jemand aus der Nachbarschaft in engerem Kontakt zu ihnen?“
Nun wendete sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem älteren Mann zu. Dieser schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Ihr Sohn ging in die selbe Schule wie der Millers Junge.“ „Millers? Wo finde ich die?“ „Dort!“, er zeigte auf die andere Straßenseite, fünf Häuser weiter, „Aber er und der andere Junge haben sich nicht gut verstanden. Er hat ihn mal ziemlich böse gebissen.“
Miss Tenner klappte fast der Mund auf. All das waren Vorfälle, die gemeldet werden müssen. Wenn schon nicht von der Familie, dann von der Schule. Das würde ein Nachspiel haben, das wusste sie jetzt schon. In der Einfahrt des Hauses, das ihr gerade der ältere Mann gezeigt hatte, standen zwei Autos, was darauf schließen ließ, dass die Familie Miller zu Hause war.