Zerbrochene Seelen. Kim Mevo. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kim Mevo
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738027495
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      Mistress Pearl warf ihr über den Rückspiegel ein kaltes Lächeln zu, das Zoe tiefer in ihren Sitz rutschen ließ. Sie wusste, das gerade etwas Schreckliches passiert war. Es war, als habe sie das Monster unter ihrem Bett gerade an den Knöcheln gepackt und zog sie nun langsam zu sich in die Dunkelheit. Und sie konnte nichts dagegen tun. Nicht mal schreien.

      4

      Heute

      Carly blickte auf, als ihr Vater nach vielen Stunden das Arbeitszimmer verließ. Er blieb an der Treppe stehen, ohne sich zu ihr herum zu drehen, oder sie anzusehen.

      „Conleth wird in einer guten halben Stunde eintreffen. Du solltest deine Koffer schon mal runter holen.“

      Carly nickte stumm. Hatte er so wenig für sie übrig, das er ihr nicht mal jetzt in die Augen sehen konnte? So kurz bevor sie ihn verlassen würde? Würde es keinen Abschied geben?

      Carly biss sich auf die Innenseite ihrer Unterlippe. Dann stand sie auf und stieg mühselig die Treppen hinauf. In ihrem leeren Zimmer sah sie sich um. Was sie in ihrem Koffer nicht mit nahm, war nun in Kisten verstaut worden. Sie würden in das neue Haus gefahren werden, wenn die Firma am nächsten Tag kam.

      Carly sah sich wehmütig im Raum um. Dann setzte sie sich auf den Boden, wo zuvor ein großer Teppich gelegen hatte und begann leise zu weinen. Wenn ihre Mutter jetzt da wäre, würde sie niemals zulassen, dass er Carly weg schickte.

      Sie sah zu einer der Wände, die sie gemeinsam mit ihrer Mutter bemalt hatte. Kopfschüttelnd und weinend zog Carly die Knie an die Brust. Sie wollte nicht weg gehen. Sie wolle nicht in diese blöde Schule, von der ihr Vater schon immer geschwärmt hatte.

      „Du solltest Tate sehen. Er ist richtig erwachsen geworden, seit er dort zur Schule geht“, hatte er geschwärmt.

      „Er wird mal ein guter General und viel Geld verdienen.“

      Was kümmerte es Carly schon. Sie wollte nie so einen Job ausführen. Sie war sehr sportlich, ja. Aber sie hätte lieber so etwas wie Personal Trainer gemacht, an einer Hochschule Sport studiert. Oder Sportlehrerin.

      Doch ihr Vater hatte andere Pläne für sie. Es kümmerte ihn gar nicht, was Carly wollte. Und das machte Carly wieder wütend. Sie schöpfte aus der Wut nun die Kraft aufzustehen und ihre Koffer hoch zu hieven, um sie in den Flur runter zu tragen.

      Als sie den letzten Koffer abgestellt hatte, hörte sie ihren Vater in der Küche. Etwas klirrte und ging zu Bruch. Carly folgte dem Geräusch und blieb schließlich in der Tür stehen. Überrascht, vielleicht auch etwas peinlich berührt.

      Ihr Vater stand an der Arbeitszeile. Sein Kaffeebecher lag zersprungen am anderen Ende des Raumes auf dem Boden. Der Kaffee floss in Rinnsalen über die Fugen der Fliesen.

      Ihr Vater sah nicht auf, als er Carly bemerkte. Aber das brauchte er auch nicht, damit Carly erkannte, dass er geweint hatte.

      Unsicher blieb sie in der Tür stehen, fühlte sich mit einem mal hilflos. So hatte sie ihren Vater noch nie gesehen. Keiner sagte etwas und die Sekunden schienen sich wie Kaugummi zu ziehen.

      Dann atmete er schwer durch und schüttelte den Kopf. „Ich ... es tut mir leid.“

      Carly war sich nicht sicher, was er mit der Entschuldigung meinte. Die Tasse, oder die Tatsache, dass er sie weg schickte. Nun sah er zu ihr auf. Er wirkte um Jahre gealtert. Tiefe Falten zogen sich über seine Stirn und seinen Mund. Sein Gesicht war blass und er hatte schwarze Ränder unter den Augen. Fast war Carly erleichtert, als es an der Tür klingelte. Langsam löste sie sich aus ihrer Starre und ging in den Flur zurück, um die Türe zu öffnen.

      Gut fünf Minuten zu früh als angekündigt, stand Conleth vor ihr. Carly machte sich keine Hoffnung, dass in diesen fünf Minuten etwas passiert wäre, das ihre Abreise hätte verhindern können. Und doch ärgerte sie sich darüber.

      Conleth trat einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. „Hallo Carly!“

      Carly stand steif da und ließ die Begrüßung über sich ergehen. Irgendwie verspürte sie auch Conleth gegenüber Wut. Vielleicht, weil er derjenige war, der Carly abholte und in diese Schule brachte. Als sich Conleth löste, legte er seine großen Hände auf Carlys Schultern. „Mein Beileid.“

      Bei diesem Wort zog sich Carlys Magen zusammen. Sie konnte diese Satz einfach nicht mehr hören, war ihm überdrüssig geworden. Er änderte nichts an der Tatsache, dass ihre Mutter weg war und er änderte auch nichts daran, dass sie um den Verlust ihrer Mutter trauerte. Dass es wehtat, das ihre Mutter für immer weg war.

      Carly spürte Tränen in ihren Augen brennen. Sie hasste es zu weinen, erst recht vor anderen Leuten. Nur vor ihrer Tante Rachel hatte sie weinen können, ohne dass es ihr unangenehm war.

      Sie senkte rasch den Blick und nickte schwach. „Dad ist in der Küche.“

      Conleth trat an ihr vorbei ins Haus ein. Er warf einen Blick auf die Taschen, die bereits neben der Treppe standen. „So viel willst du mitnehmen? Weißt du, dass du eine Uniform bekommst?“

      Uniform? Carly sah ihn schnaubend an. Mal abwarten, ob sie die anziehen würde.

      Conleth winkte ab und ging in die Küche. Carly hörte ihn etwas murmeln, dann begrüßten sich er und ihr Vater und sie unterhielten sich in leisem Ton. Carly meinte ihren Vater schluchzen zu hören und sie war froh, dass Conleth da war. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrem Vater umgehen sollte. Eigentlich war sie wütend gewesen. Doch als sie ihn eben in der Küche gesehen hatte, tat er ihr leid.

      Carly beschloss die Koffer ans Auto zu tragen und lud sie vor dem Kofferraum ab. Mit einem Griff prüfte sie, ob das Auto offen war, doch Conleth hatte den Wagen abgeschlossen. Also setzte sie sich an den Bordstein und wartete. Sie wollte nicht zurück ins Haus, wo ihr Vater am Boden zerstört zu sein schien.

      Carly dachte erneut darüber nach, ob sie ihren Vater je weinen gesehen hatte. Schließlich erinnerte sie sich an etwas, das schon viele Jahre her war. Sie war noch ein kleines Kind gewesen. Ihre Eltern hatten mitten in der Nacht mit ihr ins Krankenhaus fahren müssen, weil sie hohes Fieber bekommen hatte. Sie war wie benebelt gewesen, trotzdem erinnerte sie sich, dass sie im Bett lag und ihre Eltern vor der Zimmertür mit dem Arzt gesprochen hatten. Auch da war sie sich sicher gewesen, ihren Vater schluchzen gehört zu haben.

      Es war ein Tag vor seiner Abreise nach Afghanistan. Doch er hatte den Rückflug verschoben, damit er neben ihr am Krankenbett bleiben konnte. Und er war geblieben, die ganzen vier Tage, die sie dort bleiben musste und sogar nach zwei Tage länger. Er hatte Carly ihr Lieblingsessen gekocht und mitgebracht, ihr Cracker mit seinem eigenem Dip gemacht und Tees, damit es ihr so bald wie möglich besser ging.

      Vielleicht war es auch unfair, jetzt so wütend auf ihn zu sein. Sie bekam ein schlechtes Gewissen.

      Dann hörte sie ein Fahrrad quietschen, ein Geräusch, das sie unter hunderten wieder erkannt hätte. Christina fuhr die Auffahrt hinauf und erblickte Carly erst einen Moment später am Bordstein sitzen. Dann stellte sie ihr Rad ab und ging zu ihr rüber.

      Christina war eine ihrer Freundinnen in der Schule gewesen. Auch nach der Schule hatten sie immer viel unternommen. Doch in den letzten Wochen hatte sich Carly auch von ihr sehr zurückgezogen. Vielleicht war es auch besser so, dachte Carly. Somit würde der Abschied nicht so schwer fallen.

      Christina setzte sich neben sie an den Bordstein und warf einen Blick auf ihre Taschen. „Fahrt ihr in Urlaub?“

      Carly schüttelte den Kopf. Wieder brannten Tränen in ihren Augen. Sie war noch gar nicht dazu gekommen, Christina von der Entscheidung ihres Vaters zu erzählen. Als sich Christina umsah, erblickte sie das Zu-verkaufen-Schild und warf Carly einen entsetzten Blick zu. „Ihr zieht weg?“

      Carly bekam ein schlechtes Gewissen. Sie schüttelte den Kopf, dann nickte sie „Naja, ja. Dad verkauft das Haus.“

      Christina sah sie traurig und entrüstet an. „Das kann er doch nicht einfach so tun. Ich meine...“, sie