Diese Gedanken nach hinten schiebend, gehe ich zu der Kelter, wo ich tatsächlich Großvater und Jules antreffe. Sie sind gerade dabei, die Ernte der letzten Tage zu pressen. Damit eine gute Spätlese daraus werden kann, muss dieser Vorgang beständig kontrolliert werden, auch wenn es nicht mehr die anstrengende, manuelle Arbeit von früher ist. Großvater ist so konzentriert bei der Sache, dass er mich fast nicht wahrnimmt und ich will ihn nicht unterbrechen. Stattdessen verfolge ich das, was er tut, aufmerksam. Vieles von dem, worauf es ankommt, kenne ich schon, aber Großvater hat immer noch mehr Wissen und Erfahrung als ich. Immerhin bin ich schon so weit, dass ich mich an den Diskussionen beteiligen kann und Großvater beachtet meine Meinung genauso sorgfältig, wie die von Jules.
Nach gut zwei Stunden bemerke ich, wie die Energie von Großvater nachlässt und seine Bewegungen langsamer und träger werden. Jules ist immer noch mit Feuereifer dabei, aber er ist ja auch noch jung und dynamisch. Ich tue so, als müsste ich meine müden Knochen strecken.
«Wie wäre es mit einer kleinen Pause, Großvater?»
Er lächelt mich an und nickt.
«Gute Idee. Kommst du auch Jules?»
«Ich mache hier noch kurz zu Ende und komme dann. Geht ihr schon einmal vor.»
Also gehen Großvater und ich vor, waschen uns kurz und setzen uns im Wohnzimmer hin, wo Catherine bereits mit Kaffee und ein paar Gebäckstückchen ankommt. Dem Schein nach nehme ich auch ein Stück, das ich dann irgendwann unauffällig verschwinden lasse. Großvater muss erschöpfter sein, als ich angenommen hatte, denn er sagt erst etwas, nachdem er den Kaffee einen Moment genossen und sich ausgeruht hat.
«Bleibst du zum Mittagessen, Trish?»
«Ich muss noch die Auftragseingänge bearbeiten. Ich helfe euch, bis der Most fertig gepresst ist, dann muss ich los.»
«Danke für deine Hilfe, Schatz. Wir sind ja praktisch durch, du kannst nach der Pause also auch gehen. Ich denke, es wird ein guter Jahrgang.»
«Ja, das denke ich auch. Willst du dich damit um eine Medaille bewerben?»
«Ich weiß noch nicht. Dazu müssten wir erst einmal abwarten, wie der Gärvorgang verläuft. Wir hatten einige sehr schöne Sonnentage, also hoffe ich dass der Zuckergehalt ausreicht, um eine gute Qualität zu erzeugen.»
«Das wird schon werden, die ersten Messungen waren ja vielversprechend.»
Bevor Großvater antworten kann, kommt Jules herein und beginnt sofort eine Diskussion über die Gärung. Ich lausche ihm mit einem Lächeln. Jules sprüht nur so vor Optimismus, das liegt einfach in seiner Art. Wenn es nach ihm ginge, hätten wir eine Goldmedaille bereits so gut wie sicher. Während Großvater die Dinge kühl und sachlich betrachtet, muss Jules eher gebremst werden, damit er sich nicht in irgendwelchen verrückten Ideen verrennt. Die beiden ergänzen sich hervorragend.
Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken habe, stehe ich auf und gebe Großvater einen Kuss.
«So, ich gehe dann mal. Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst.»
«Danke Trish. Ach ja, kannst du mir noch einen Gefallen tun?»
«Klar. Was denn?»
Großvater beugt sich zum Tisch herüber, wo ein Stapel Papiere liegt. Dort zieht er einen Brief hervor und reicht ihn mir.
«Was hältst du davon?»
Stirnrunzelnd überfliege ich den Brief. Er ist von einem der Weinbau Zulieferunternehmen aus Lorgues, mit denen wir seit Jahren Geschäfte machen. Im Wesentlichen sagt der Brief aus, dass sie nichts mehr an uns liefern wollen, es sei denn, wir wären bereit, das Doppelte der marktüblichen Preise zu zahlen. Es scheint fast so, als wollten die nichts mehr an uns verkaufen.
«Das ist aber komisch. Haben die einen an der Klatsche?»
«Ich kann mir auch keinen Reim darauf machen. Ich habe schon versucht, dort anzurufen, aber die Sekretärin hat mich abgewimmelt. Offensichtlich ist ein neuer Juniorchef in die Firma gekommen und der will nicht mit mir sprechen.»
«Soll ich da mal persönlich vorbeischauen?»
«Ja, mach das bitte. Wir können unser Zubehör auch problemlos in Toulon kaufen, aber ich würde gerne zuerst wissen, was in die gefahren ist.»
«Gut, das liegt ja fast auf dem Weg. Ich sage dir dann Bescheid, wenn ich mehr weiß.»
Damit gebe ich ihm noch einen Kuss, winke Jules zu und mache mich auf den Weg. Ich entschließe mich, bei unserem Chateau zu parken und den Weg zu dieser Firma zu Fuß zurückzulegen. Der Tag ist herrlich sonnig, wie so oft hier in Südfrankreich, obwohl man der Luft bereits den Herbst und nahenden Winter anmerkt. Während auf dem Weingut bald die gemütliche Zeit beginnt, ist es für Pierre und mich etwas hektisch, denn jetzt gilt es, sich die besten Weine zu sichern, damit der Verkauf auch nächstes Jahr problemlos läuft.
Nach einem gemütlichen Spaziergang stehe ich vor dem Eingang zu dem Unternehmen, von dem wir seit Beginn unserer Anwesenheit hier die Dinge gekauft haben, die man für die Herstellung von Wein so benötigt. Ich kann mich auch noch an den Inhaber erinnern, doch wenn ich mich recht besinne, habe ich gehört, dass er vor ein paar Wochen ins Krankenhaus musste. Vermutlich hat der Juniorchef, von dem Großvater erzählte, jetzt das Sagen.
Am Empfang sitzt eine gelangweilt aussehende Blondine, die sich mit voller Intensität ihren Fingernägeln widmet. Sie ist etwa zehn Jahre älter als ich und mir sofort unsympathisch. Vermutlich sitzt sie nur wegen ihres Aussehens dort, nicht aber wegen ihrer Kompetenz. Ich werde in meiner Ansicht bestätigt, als ich an sie herantrete, sie aber keinerlei Bereitschaft zeigt, mich zur Kenntnis zu nehmen. Ihre Fingernägel sind ja auch so etwas von wichtiger. Nach ein paar Sekunden verliere ich die Geduld und räuspere mich deutlich hörbar. Damit erringe ich endlich ihre Aufmerksamkeit.
«Sie wünschen?»
Ihr Tonfall ist überaus gelangweilt und deutet an, dass ich lediglich eine unwillkommene Störung bin. Mit Mühe beherrsche ich mich.
«Ich hätte gerne den Chef gesprochen.»
«In welcher Angelegenheit?»
«Es geht um einen Zuliefervertrag, den ihre Firma nicht mehr erfüllen möchte.»
«Und ihr Name?»
«Ich komme im Auftrag des Weingutes Strong.»
«Tut mir leid, der Chef ist leider beschäftigt.»
Ihre Antworten kommen ohne Zögern und in der ganzen Zeit hat diese Frau ihren Blick nicht von ihren Fingernägeln gelassen. Jetzt zieht sie auch die letzte Aufmerksamkeit wieder von mir ab, als wäre es ihr vollkommen gleichgültig, was ich angesichts dieser Zurückweisung tun werde. Heiße Wut durchströmt mich, ein solches Verhalten muss ich mir nicht bieten lassen. Diese Schlampe soll mich noch kennenlernen. Meine Aufmerksamkeit ist jetzt ungeteilt auf sie gerichtet, mein Blick fokussiert sich auf sie, alles andere tritt in den Hintergrund.
«Sie werden jetzt ihrem Chef ankündigen, dass er Besuch hat, ist das klar?»
Ich weiß nicht, was diese Frau fühlt. Aber plötzlich sind ihre Augen auf mich gerichtet, ihre Pupillen weiten sich, ich rieche Angst, die aus allen ihren Poren ausbricht. Mein Gesicht ist nicht verwandelt, aber es ist dicht davor. Ich weiß aus meinen früheren Erfahrungen mit Vampiren, dass ich jetzt eine Drohung ausstrahlen muss, die selbst die unempfindlichsten Menschen bemerken.
«Äh. Was? Oh Gott. Natürlich, natürlich, Madame. Äh. Wen soll ich melden?»
Ein Lächeln erscheint auf meinen Lippen, es ist bestimmt kein freundliches Lächeln. Ich meine es auch nicht so.
«Sagen sie ihm, dass Madame Polignac mit ihm sprechen will.»
Hastig nickt sie und greift zu ihrem Telefon. Sie scheint gute Lust zu haben, sich in eine der Ecken zu flüchten, aber der Empfang ist so gebaut,