„Sie hören wirklich nie darauf, was man Ihnen sagt! Ich will nicht gerettet werden! Kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten!“
„Ich denke, du bist dir nicht im Klaren darüber, was mit dir passiert, Tina. Dein Name ist nicht Alice.“ Andy hoffte, dass die Konfrontation mit den beiden Namen irgend etwas in ihr auslösen würde. Das geschah auch, allerdings nicht ganz so wie er es erwartet hatte.
Sie zischte ihn an, darin mischte sich ein Surren in der Leitung, das ihn an das Geräusch von Hochspannungsleitungen erinnerte: „Alle relevanten Determinanten der Konstellationen stimmen, das Psychogramm entspricht den nötigen Parametern und sogar die Ähnlichkeiten in der Optik sind akzeptabel. Es fehlt nur noch der letzte Schliff und die Verbindung ist makellos.“ Dann nahm ihre Stimme einen hysterischen Unterton an: „Was wissen Sie schon?!“
Andy wunderte sich darüber, dass manche der Worte so klangen, als ob sie gleichzeitig von zwei Personen gesprochen wurden, wobei eine der Stimmen eine Tonlage höher klang als die andere. Das Wort „Verbindung“ schließlich ließ ihn knirschend die Zähne zusammenbeißen. Hier hatte er es eindeutig mit der Stimme der Tiefe zu tun. Aber er gab nicht auf.
„Alice ist tot. Ich habe sie sterben sehen. Was erhoffst du dir von all dem hier?“
Ein unvorstellbar tiefes Knurren erfüllte die Leitung und überlagerte mit seiner durch Mark und Bein gehenden Vibration alle Störgeräusche der Leitung. „Wir sind unvergänglich! Reden Sie sich nur ein, dass von Ihnen nichts als Asche und Staub übrig bleiben wird! Das ist Ihr Problem! Sie existiert! Ich will es so!“
Es war der trotzige Aufschrei eines Kindes, die leidenschaftliche Entgegnung eines Märtyrers kurz vor seinem Ende, eine unbedingte Wahrheit, de nichts neben sich duldete. Und dann wurde die Stimme ätzend und gehässig: „Gehen Sie, bevor man Sie findet! Laufen Sie weit, weit weg! Man sucht Sie schon! Alle glauben, Sie haben unser Blut an Ihren Händen!“
Das Mädchen begann zu lachen. Es war ein entsetzlich dissonantes Geräusch mehrerer Stimmen, die ihre einzelnen Lachstöße arhythmisch zueinander ausstießen. Andy legte benommen den Hörer auf. Das Mädchen lachte weiterhin, spiegelte seine Geste, kombinierte diese aber mit der Andeutung vom Durchschneiden der Kehle. Dann winkte sie ihn achtlos von sich.
Andy taumelte mehr aus der Wohnung als er hinausging. Auch wenn er nun weder das Lachen noch die übrigen merkwürdigen Geräusche in der Leitung hörte, so verfolgte ihn die Kakophonie in seinem Kopf. Inzwischen war er der festen Überzeugung, dass diese Geräuschmischung seinen gegenwärtigen Zustand der Unsicherheit und Schwäche verursacht hatten. Er hielt sich nicht für jemanden, dem man mit seltsamen Tricks in Spiegeln und Telefonhörern Angst einjagen konnte, und dennoch schafften sowohl die Hauptstadt als auch diese Erscheinung dies mühelos.
„Was war das eben?“, fragte Arina flüsternd, nachdem sie leise die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Andy wusste zuerst gar nicht, was er ihr sagen sollte. Er fand nicht die richtigen Worte, um die Szene zu beschreiben. Dann fasste er sich und setzte zu einer knappen Zusammenfassung in einem ähnlich leisen Tonfall an. Am wichtigsten erschien es ihm, Tinas Worte möglichst genau wiederzugeben, nachdem er sich keinen rechten Reim auf sie machen konnte und eine Interpretationshilfe von Seiten seiner Begleiterin erhoffte. Schließlich seufzte er, selbst darüber überrascht, wie müde er klang: „Das alles macht so gar keinen Sinn. Was haben die mit ihr gemacht?“
Arina wirkte nachdenklich: „Hat sie wirklich von Konstellationen gesprochen?“ Andy nickte. Sie seufzte nun auch: „Dann könnte es bereits zu spät sein. Ich meine, ich bin keine Expertin für astrale, arkane oder sonst welche Verbindungen, aber es gibt mehr als genug Fälle von freiwilliger Besessenheit, insbesondere dann, wenn eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Besetzer und Besetztem besteht und eine Portion Hingabe gegeben ist. So handeln oft Priester als Verkörperungen ihrer Götter, wenn deren Glaube stimmt. Wenn die Schatten ihre Hausaufgaben gemacht haben, dann könnte dieses Mädchen schon jetzt zu Alice geworden sein.“
Als sie Andys Enttäuschung bemerkte, fügte sie hastig hinzu: „Wenn die Dissonanz zwischen ihr und Alice allerdings groß genug ist, dann wäre der Prozess sicherlich umkehrbar, insbesondere dann, wenn sie sich nur deswegen in dieses Spiel fügt, weil sie gezwungen wird. Dann könnten wir noch eine Chance haben, solange noch irgend etwas von ihr übrig ist.“
Nach einer kurzen Pause stellte sie eine Frage an ihn: „Weißt du, ich bin ein wenig herumgekommen und bin mir daher gar nicht sicher, was für dich normal ist und was nicht. Sind solche Spiegeltricks bei euch üblich?“
Andy blinzelte verwirrt: „Nein, überhaupt nicht. Ich habe etwas Vergleichbares zum ersten Mal in der Hauptstadt gesehen. Worauf willst du hinaus?“
Sie zuckte mit den Schultern: „Dann solltest du vielleicht Kontakt zu den Leuten da aufnehmen und sie fragen, was das soll.“
Andy sah sie fragend an: „Was geht dir durch den Kopf?“
Er hatte das Gefühl, dass ihre Gedankengänge ihn langsam aber sicher hinter sich ließen, was vermutlich mit der fortgeschrittenen, nächtlichen Zeit zu tun hatte. Andererseits war er sich aber auch nicht sicher, ob er ihr in diesem Fall im wachen, ausgeschlafenen Zustand hätte folgen können.
Sie zuckte erneut mit den Schultern: „Mir gehen viele Ideen durch den Kopf und ich kann derzeit keiner von ihnen den Vorzug geben. Vielleicht hat etwas deine Welt infiziert. Vielleicht betrifft es nur Dinge um dich herum. Vielleicht ist es auch was ganz anderes. Vielleicht ist das alles nur ein verrückter und extrem realistischer Traum.“
Andy seufzte: „Dann fällt mir nichts anderes ein, als jetzt zu einer U-Bahn-Station zu gehen und versuchen, da trotz der Uhrzeit irgendwie reinzukommen. Mit etwas Glück holt uns dann dieser Tornado ab.“ Sie nickte, und sie gingen wieder los.
Die nächste Station lag einige Blocks entfernt. Sie erreichten sie ohne irgendwelche Zwischenfälle. Falls wer auch immer nach ihnen suchte, dann suchte er sie wohl gerade woanders. Andy legte trotzdem ein recht flottes Tempo vor, schon allein deshalb, weil er immer noch die schwache Hoffnung hatte, in dieser Nacht noch etwas Schlaf zu finden. Arina hielt mühelos mit ihm Schritt. Sie lief so beschwingt auf ihren High Heels, als wäre sie mit ihnen auf die Welt gekommen.
Auf dem Weg fragte er sie leise: „Glaubst du, dass man mich in der Hauptstadt vielleicht belogen hat? Wollen die Schatten Alice am Ende gar für die Leute dort drüben zurückbringen?“
Arina seufzte: „Um ganz ehrlich zu sein kann ich das nicht ausschließen. Verluste müssen kompensiert werden und manchmal wählen die Leute dabei eben extreme Möglichkeiten, wenn sie es können. Aber so wie ich sie nach meinem bescheidenen Informationsstand einschätze, kann ich das nicht glauben. Zugegeben, manchmal sind sogar die besten von uns zu schrecklichen Taten fähig, wenn die Verzweiflung groß genug ist... es ist echt nicht einfach. So oder so, wir kommen wohl nicht drum herum, sie zu fragen.“
Andy nickte: „Sieht so aus. Ich will nur hoffen, dass die Station jetzt irgendwie zugänglich ist.“
Die Treppe führte sie in einen beleuchteten unterirdischen Gang, der jedoch abrupt zu einer Sackgasse wurde, indem man ihn mit einem heruntergelassenen Metallgitter versperrt hatte. Andy fluchte leise und rüttelte an diesem Metallvorhang, wie erwartet bis auf ein Scheppern vollkommen ergebnislos. Allerdings hörten sie bald Schritte hinter dem Gitter, die sich ihnen in einem schnellen, aber nicht zu hastigen Tempo näherten.
Andy und Arina wechselten die Blicke. Wenig später erschien um die Ecke ein Mann in einer typischen Nachtwächteruniform. „Die Station ist geschlossen, gehen Sie nach Hause!“, ermahnte er die beiden.
Arina