Die Hexe und der Schnüffler. Inga Kozuruba. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Inga Kozuruba
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738019360
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bevor das Reinigungspersonal kommt.“

      Der Mann mit dem breiten Mund sah sie missmutig an: „Die sind erst in zwei Stunden da. Sie können ja dann noch Mal wiederkommen und nachfragen. Oder Sie gehen einfach schlafen und fragen morgen im Fundbüro an.“

      Andy seufzte und beschloss, da mitzuspielen: „Das habe ich ihr auch schon gesagt, aber es bedeutet ihr sehr viel. Sehen Sie, die Ohrringe sind ein Geschenk von ihrer inzwischen verstorbenen Mutter. Lassen Sie uns kurz nachsehen, und wir sind gleich wieder weg. Sie können uns ja auf die Finger schauen, wenn es Sie beruhigt.“

      Der Mann schüttelte den Kopf: „Das ist ausgeschlossen, die Vorschriften, verstehen Sie?“

      Andy suchte verzweifelt nach einem Strohhalm, um den Mann doch noch zu überreden. Er war schon sehr nahe dran, seine Brieftasche zu zücken und zu versuchen, den Wächter zu bestechen, als sein Blick auf das Namensschild auf dessen Brust fiel. „Boca“ stand darauf geschrieben. Irgendwoher kannte er den Namen. Er musterte den Mann erneut, diesmal aufmerksamer. Dessen Haut war nicht nur des künstlichen Lichts wegen so blass, sie war in der Tat sehr bleich. Der extrem breite Mund fügte sich sehr gut ins Bild, ebenso die merkwürdige Körperhaltung, die zwar müde und schlaff zu sein vorgab, aber in Wirklichkeit einer angespannten Feder glich. Und schließlich waren die Haare, die unter der Mütze herauslugten, eindeutig nicht echt.

      „Agent Boca?“, fragte er leise.

      Der Mann grinste – eines dieser Grinsen, bei denen der Mund sich von einem Ohr zum anderen zog – und nickte: „Ich hab’ mich schon gefragt, warum Sie so lange brauchen.“

      „Ich habe nicht erwartet, einen von euch hier zu sehen. Haben Sie an jeder Station Agenten platziert oder hatte ich nur Glück?“

      Boca lachte kurz: „Nachdem was bei uns gerade los ist können Sie froh sein, dass man Ihren Fall als hoch genug priorisiert hat, um wenigstens einen von uns hier abzustellen. Ich bin für eine Observierung der Stationen zuständig, obwohl inzwischen keiner mehr damit gerechnet hat, dass sie sich noch Mal melden würden.“

      „Dann ist es wohl ein ziemlich großer Zufall“, stellte Andy fest.

      Boca schüttelte den Kopf und wirkte gekränkt: „Daran ist überhaupt nichts zufällig. Ich bin doch kein Anfänger! Für so einen lächerlichen Job braucht man nicht mehr als einen Agenten. Aber bevor ich sie mit Details langweile, sollten wir gehen, sonst verpassen Sie ihren Zug.“ Agent Boca fuhr das Gitter hoch, damit die beiden passieren konnten, und ging voran. Andy nickte und folgte ihm, Arina ebenso.

      Sie kamen am Gleis just in dem Moment an als der Tornado einfuhr. Arina nutzte die laute Geräuschkulisse und flüsterte Andy ins Ohr – gerade laut genug, damit nur er die Worte hören konnte: „Diese Typen sind sogar in normalen Outfits gruselig.“ Andy nickte ihr zustimmend zu, hatte aber innerlich die Vermutung, dass sie nur deshalb dieser Meinung war, weil der Agent offensichtlich gegen ihre Reize immun zu sein schien.

      Der Zug kam zum Stehen, die Türen öffneten sich und sie stiegen ein. Agent Boca verschwand hinter dem Tornado in der Finsternis des Tunnels. Überrascht bemerkte Andy, dass sie nicht allein im Zug waren. Auf zwei nebeneinander angeordnete Vierergruppen verteilt saßen sechs Leute herum, die in ihrer Erscheinung nur bedingt zueinander passten. Da waren drei Partygänger, ein abgerissener Punk, und zwei Geschäftsleute. Der Punk sah zu Andy und Arina und winkte sie zu sich. Andy war überrascht, dass Arina sich sogleich mit einem Lächeln auf den Lippen in Bewegung setzte, und folgte ihr dann schulterzuckend. Sie nahmen auf den beiden freien Sitzen gegenüber dem Punk und der neben ihm sitzenden Geschäftsfrau Platz. Dann schlossen sich die Türen und der Zug raste los, hinein in die Dunkelheit.

      Sehr bald begann das Licht im Wagen zu flackern, und gleichzeitig spürte Andy unter sich eine Bewegung, die nicht mit der Fahrtrichtung des Zuges übereinstimmte. Er kam sich plötzlich vor wie in einer Achterbahn, in der die Sitze frei beweglich waren. Nur war diese Bewegung nicht rotierend-mechanisch, sondern irgendwie lebendig und organisch, als würde eine Katze ihren Rücken durchstrecken. Dann sah er auch, dass die Sitze sich bewegten. Aus den durch den Gang getrennten Vierergruppen wurde eine einzige Runde. Aber als es soweit war, wunderte Andy sich überhaupt nicht darüber, weil etwas anderes seine Aufmerksamkeit wesentlich stärker beanspruchte.

      Im Flackern der Lampen veränderte sich Stück für Stück die äußere Erscheinung der anderen Passagiere. Es wirkte beinahe so, als würde mit jedem Lichtblitz ein Stück von einer Eierschale entfernt werden, unter der etwas anderes zum Vorschein kam. Der Punk, der nun links von Andy saß, entpuppte sich als Jack, links von ihm saß seine Schwester Avera, links von ihr wiederum saß Agent Mens, der seiner Tarnung noch am ähnlichsten sah. Rechts von Arina saßen die Prinzessin des Spiegelbilds Astasia, dann der Engel aus dem Spiegelbild der Hauptstadt und der inzwischen vom Zerbrochen Prinzen zum Zerbrochenen König gewordene Dannel.

      Während die meisten von ihnen so wie Agent Mens noch genauso aussahen wie in dem Moment, in dem Andy sie zuletzt gesehen hatte, wirkten Jack und Avera, die beiden Zwillinge der ursprünglichen Hauptstadt, nun gut um ein Jahrzehnt gealtert. Besonders dramatisch wirkte diese Veränderung jedoch nur bei Jack, der nun dem Schergen beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten war und auch beinahe dessen muskulöse, kraftstrotzende Statur erreicht hatte. Der Blick in Jacks Augen strafte jedoch diese Ähnlichkeit Lügen. Es war nicht die geringste Spur der Grausamkeit darin. Umso schmerzvoller musste die Begegnung für Astasia sein. Der innere Kampf zwischen Sympathie und Verlangen auf der einen Seite mit Abscheu und Schmerz auf der anderen Seite war offensichtlich. Ihre Blick suchte immer wieder den seinen, nur um sogleich wieder zu flüchten.

      Avera war die erste, die das Wort ergriff: „Guten Abend, Andy. Wir haben gar nicht mehr geglaubt, dass Sie sich wieder melden werden. Sie haben vermutlich keine Ahnung, was die Episode im Spiegelsaal für Folgen für uns hatte.“

      Andy sah sie fragend an: „Da haben Sie absolut recht. Ist das die Ursache dafür, dass schon wieder ein Mädchen verschwunden ist?“

      Avera riss weit die Augen auf: „Was? Wie?“ Ihre Augenlider begannen zu flattern, ihre Augäpfel rollten sich so weit nach oben, dass beinahe nur noch das Weiße in ihnen zu sehen war, und dann sah sie wieder zu Andy: „Der Tornado hat niemanden mitgenommen. Keiner der Agenten hat irgend eine solche Handlung durchgeführt. Es ist nichts dergleichen autorisiert worden. Sind Sie sich sicher, dass wir tatsächlich etwas damit zu tun haben?“

      Andy hielt ihren Blick fest: „Die vier Schatten, die zu Alice gehörten, fallen aber in Ihre Zuständigkeit, oder etwa nicht?“

      Avera wurde blass: „Sie... sie sind nicht tot?“

      Andy schüttelte langsam den Kopf: „Nein sind sie nicht. Sie sind quicklebendig und sie haben ein Mädchen in ihrer Gewalt, um Alice wieder zurück zu holen. Was halten Sie davon?“

      Avera biss sich auf die Unterlippe: „Es... tut mir unendlich leid... ich... wir alle sind davon ausgegangen, dass die Schatten zusammen mit Alice gestorben sind. Seit Ihrer Rückkehr in Ihre Welt haben wir kein Lebenszeichen von ihnen erhalten – und wenn ich ehrlich sein soll, wir hatten nicht die Zeit und auch nicht die Ressourcen, um uns um sie zu kümmern. Wir hatten uns auf Ihre Beobachtungen verlassen. Um noch einmal darauf zurückzukommen, was passiert ist – Ihr Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Wir werden niemanden mehr „holen“. Wir können das nicht mehr. Wir müssen jetzt nämlich zu euch.“ Avera beendete den Satz und wartete ruhig auf Andys Reaktion.

      Andys Mund klappte auf. Dann schloss er sich wieder. „Was bedeutet das?“

      Astasia ergänzte leise: „Man sollte eben vorsichtig sein, was man sich wünscht. Sie haben diesen Wunsch gehabt seitdem sie in der Hauptstadt angekommen sind, spätestens aber seitdem Ihnen bewusst geworden ist, was mit Lady Ellie passiert ist. Sie haben ihn in einem schicksalhaften Augenblick ausgesprochen. Leider... ist dies das einzige gewesen, was ausgesprochen wurde. Sie haben die Handbremse eines Wagens gelockert, und er ist einfach so losgerollt. Jetzt stellen Sie sich vor, der Wagen wäre ein riesiger Laster und sie haben einige kleine Kinder in der Kabine, die ihr Bestes geben, damit dieses Ungetüm nicht irgendwo hineinrast und womöglich einen ganzen Spielplatz voller Kinder dem Erdboden gleichmacht. Wir haben uns