Wir lachen gemeinsam. „Das sollte kein Problem sein. Bei Blumen bin ich extra vorsichtig.“
„War ja klar, dass dieser Blumenfetisch in der Familie weitergegeben wurde. Also dann … Kann ich dich mit dem Schnee und den Schippen allein lassen?“
Ich nicke und nehme mir den Schneeschipper von der Hauswand. „Absolut.“
Kurz sieht sich Ray noch um, dann seufzt er. „Viel Spaß, du hast wirklich viel zu tun. Wenn du Hilfe brauchst, dann ruf einfach den Hausmeister, der hilft dir schon. Wer weiß, wo der wieder rumgeistert.“
Nur über meine Leiche, denke ich mir und fange an den ersten Schnee wegzuschippen.
„Wenn du fertig bist, dann komm zu mir in die Küche, da warten so einige Kartoffeln auf dich, die geschält werden müssen“, ruft Ray mir noch hinterher, bevor er wieder im Hotel verschwindet.
Ich vergrabe mein Gesicht mehr in meinem Wollschal und fahre mit dem Schneeschipper über den gepflasterten Hof, schmeiße dann den Schnee auf den Haufen unter dem Baum, von dem Ray gesprochen hat. Mein Arbeitstag ist schon fast vorbei und bisher ist mir Nathan noch nicht über den Weg gelaufen, worüber ich eigentlich glücklich bin, denn so plagt er mich nicht mit seinen beleidigenden Sprüchen oder zieht mich mit dem gestrigen Abend auf.
Allerdings habe ich sein Motorrad auch nicht auf dem Parkplatz gesehen, weswegen es auch sein kann, dass er gar nicht erst auf der Arbeit erschienen ist. Ob Nathan sich öfters mal erlaubt, einfach nicht zu kommen? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Grandpa ihm das oft durchgehen lassen würde und er seinen Job stattdessen dadurch schnell los wäre. Wahrscheinlich ist Nathan einfach nur intelligent genug, nicht mit dem Motorrad zu fahren, während alles zugeschneit ist.
Nachdem ich die Hälfte des Hofes schon freigeschaufelt habe, meine Finger mehr als eingefroren sind, weil ich meine Handschuhe vergessen habe, mache ich mich ans Blumenbeet. Ich nehme mir einen Besen, um die Alpenveilchen vorsichtig freizukehren. Normalerweise blühen sie erst im Februar, es ist beinahe ein Wunder, dass sie hier so bunt strahlen. Die Chance muss ich sofort nutzen.
Schnell gucke ich, ob ein Mitarbeiter mich sehen könnte, dann knie ich mich zu den Blumen und pflücke gleich zwei von den lila Blüten. Sachte schiebe ich sie in meine Jackentasche, damit sie nicht kaputt gehen. Schmunzelnd streiche ich über weitere Blumen und fühle mich sofort wohl. Blumen geben mir einfach gewisse Glücksgefühle, die mich so einiges vergessen lassen, warum auch immer. Wahrscheinlich weil ich damit meine Grandma verbinde und ich viele schöne Zeiten mit ihr erlebt habe, während wir Blumen in unsere Bücher geklebt haben. Im Eifer des Gefechts pflücke ich zwei weitere Blüten und lasse sie in meiner Jacke verschwinden. Man kann nie genug haben, vor allem weil bald Weihnachten ist und ich viele Bücher zu verschenken habe.
„Als Enkelin des Chefs ist das ganz schön unmanierlich“, ertönt plötzlich eine dunkle Stimme hinter mir und mir fällt ein Veilchen aus der Hand, weil ich mich so erschrecke.
Ich drehe mich um und blicke unmittelbar zu Nathan, der an der Hauswand gelehnt zu mir sieht. „N-Nathan“, stelle ich keuchend fest und stelle mich augenblicklich auf. „Was machst du denn hier?“
Er stößt sich mit den Händen in den Hosentaschen von der Wand ab und lässt sich auf eine Bank daneben fallen. „Ich soll dir helfen.“
„Okay … Und wirst du mir helfen?“
„Nein. Bis auf die Tatsache, dass du tatsächlich irgendwelche beschissenen Blumen aus dem Garten klaust, machst du das eigentlich gut. Ich werde hier sitzen und dir zugucken.“
„Ich, äh, ich habe sie nicht geklaut“, versuche ich, mich rauszureden, weil ich Angst bekomme, er könnte es Grandpa sagen und Grandpa ist wirklich sehr empfindlich, was seine Blumen angeht. Selbst vor mir würde er keinen Halt machen, mir eine Predigt zu halten oder mir eine Strafarbeit reinzudrücken.
Nathan hebt eine Braue. „Was hast du denn stattdessen mit den jetzt abgerissenen Blumen gemacht?“
Ich sehe zu ihnen, dann wieder zu ihm. „Ich habe sie mir … genommen.“
„Okay, du hast sie dir genommen. Zum Glück hast du sie dir nur genommen und nicht geklaut.“
Und schon geht er mir wieder mit seinen sarkastischen Sprüchen auf die Nerven. Keine zwei Minuten ist er hier, nimmt er mich erneut auf den Arm. Unerträglich in jedem Aspekt. „Solltest du mir nicht eigentlich helfen und aufhören, doofe Sprüche zu machen?“, meckere ich jetzt und nehme mir den Besen vom Boden.
Er zuckt nur gleichgültig mit einer Schulter. „Wie gesagt, du machst das auch gut ohne meine Hilfe. Du bist ein Naturtalent.“
Verärgert beginne ich wieder, mit dem Besen die Blumen vom Schnee zu befreien. „Übrigens habe ich gestern auch nur wenig Ärger von meinen Eltern bekommen, danke der Nachfrage.“
„Was interessiert es mich, was du mit deinen Eltern hast?“
„Es ist deine Schuld, dass ich zu spät nach Hause gekommen bin, nach Alkohol gerochen habe und mein Handy kaputt gegangen ist.“
„Nein, das ist ganz bestimmt nicht meine Schuld“, lacht Nathan auf. „Du hättest ja nicht mitkommen müssen. Und wenn du dich nicht so kindisch verhalten hättest, wäre dir auch die Scheiße mit dem Wodka erspart geblieben.“
Empört sehe ich ihn an und stampfe mit dem Besen auf. „Kindisch? Du scheinst kindisch mit erwachsen zu verwechseln. Es war kindisch, wie sich deine seltsamen Freunde verhalten haben, und erwachsen, dass ich diese Rauschmittel abgelehnt habe.“
„Rauschmittel“, amüsiert sich Nathan. „Du hörst dich an wie eine verdammte Nonne. Was ist nur los mit dir?“
„Was ist nur los mit dir? Du sitzt hier rum und beleidigst mich! Ich arbeite wenigstens, im Gegensatz zu dir.“
„Stell dich nicht so an. Ich arbeite hier schon länger als du, ein wenig Arbeit tut dir mal gut. Jetzt bekommst du eben nicht mehr den Arsch von deinen Eltern gepudert.“
„Ich bekomme den Arsch von meinen Eltern nicht gepudert“, verteidige ich mich und muss schon wieder aufhören, mit dem Besen die Blumen zu befreien, denn sonst zerquetsche ich sie noch, weil ich durch Nathan so geladen bin. „Du kennst mich doch gar nicht, also behaupte nicht so etwas!“
Wieder sieht Nathan mich ungläubig an. „Also bekommst du von deinen Eltern nicht alles, was du dir erwünschst?“
Sofort schießen mir tausend Dinge in den Kopf, die ich in meinem ganzen Leben von meinen Eltern bekommen habe, und muss Nathan gedanklich recht geben. Ich habe immer das bekommen, was ich wollte, und musste nie für etwas arbeiten. Zumindest nicht körperlich. Sie hatten Erwartungen an mich, wie gute Noten und den Violinen- und Klavierunterricht, aber sonst hatte ich alles, was mein Kinderherz begehrte. Doch natürlich würde ich das nie vor Nathan zugeben. Nur weil meine Eltern mehr Geld haben und ich nicht betteln musste, um das zu bekommen, was ich wollte, macht mich das nicht zu einem minderwertigeren Menschen.
„Verzogen nenne ich so etwas“, gibt Nathan noch hinzu und legt desinteressiert seinen Kopf in den Nacken, lässt ein paar Schneeflocken in sein Gesicht fallen.
„Verzogen?“, frage ich empört. „Nur weil deine Eltern anscheinend keine Ahnung hatten, wie man ein Kind erzieht, heißt das noch lange nicht, dass ich verzogen bin!“
Nathan sieht mich wieder an und schweigt für einen kurzen Moment. Seine Augen wirken mit einem Mal so leer, da ist keine Belustigung mehr, kein Sarkasmus, kein Zorn, nichts. „Okay, ich gebe auf“, sagt er schließlich und sein rechter Mundwinkel hebt sich ein wenig, jedoch bleiben seine Augen leer. „Meine Erziehung wurde vollkommen verkackt und du bist verzogen. Einigen wir uns darauf.“
Zweifelnd sehe ich ihn mit gerunzelter Stirn an. „Hör auf zu