„Dieser Orden war einst der Stolz dieses Landes. Viele Jahrhunderte lang zogen seine Mitglieder mutig in die Schlacht. Im Volk waren sie berühmt und geachtet und bei ihren Gegnern gefürchtet. Bald traute sich keine Nation einen Finger gegen Canthan zu erheben, aus Furcht, es mit den Kampfzauberern aufnehmen zu müssen. Zusammen mit Arthenholm bildete Canthan das Herz dieses Kontinents und brachte Wohlstand und Fortschritt nach ganz Werduum.“ Ein verträumter Blick trat in seine Augen. „Der Handel florierte... nach Mherdon, über den Ozean zu den westlichen Kontinenten. Ach, selbst hoch in die Länder der Nordmänner! Sogar Drachen kamen auf ihren Reisen in Ehrenthal vorbei.“
„Drachen?“, schnaubte Constantin ungläubig und fing sich einen strafenden Blick des Meisters ein.
„Ganz genau. Drachen. Die ältesten Lebewesen dieser Welt. Noble Kreaturen mit einem ungeheuren Maß an magischer Kraft. Selbst der stärkste Zauberer wirkt gegen sie wie ein Kind.“
Constantin stützte die Arme auf die Knie und musterte den Meister. Worauf wollte er diesmal hinaus? Es war nichts Neues, dass der Meister eine Lektion mit einem ausschweifenden Geschichtsvortag begann. Nur heute war Constantin wirklich nicht in der Stimmung dazu.
„Jedoch nahm das Schicksal vor nicht allzu langer Zeit eine dramatische Wendung.“ Theatralisch hob der Meister seinen Stab und fuchtelte mit den Händen. „Seitdem Roderich auf dem Thron sitzt, ist alles anders! Die Allianzen zwischen den Ländern sind zerbrochen... alles, was unsere Vorfahren mühsam aufgebaut haben, wurde mit Füßen getreten.“ Plötzlich sprang er auf die Füße und deutete mit einem Finger auf Constantin. „Doch das Rad des Schicksals hält niemand auf. Ich kann es im Wind hören, wenn er in den Zweigen der Bäume wispert. Ich kann es nachts in den Sternen sehen – die Zeit ist gekommen.“
„Die Zeit wofür?“ Allmählich verlor Constantin die Geduld. Warum konnte der Meister seine Fragen nie wie ein normaler Mensch beantworten? Mit einer kaum sichtbaren Bewegung ließ Meister Albion seinen Stab in Constantins Richtung schnellen. Er drehte das Handgelenk und das Ende des Stabes verharrte wenige Zentimeter vor Constantins Nase. „Ich weiß, was dich bedrückt.“ Constantin öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder. „Jedoch liegt Aurelias Schicksal nicht mehr in unseren Händen. Es ist an der Zeit, dass sie ihren eigenen Weg geht.“
„Das ist doch Unsinn! Sie gehört hierher und nirgendwohin sonst!“, brauste Constantin auf. „Meister, Ihr habt sie in den Tod geschickt!“ Plötzlich war er auf den Füßen.
Die Augen des Meisters blitzten gefährlich und sein Stab bohrte sich schmerzhaft in Constantins Brust.
„Nein, das tut sie nicht. Ihr Platz war niemals hier an diesem Ort.“
„Bitte?!“ Es bedurfte all seiner Willenskraft nicht zu schreien.
„Es gibt keine Zufälle in dieser Welt“, sagte Meister Albion und ragte plötzlich groß und drohend über ihm auf. Constantin wich einen Schritt zurück und versuchte sich zu beruhigen. Wenn er sich weiter aufregte, würde er lediglich eine Tracht Prügel beziehen. Langsam setzte er sich wieder auf seinen Hocker.
„Was würdest du tun, wenn ich dir sage, dass es kein Zufall war, dass ich Aurelia damals auf der Straße fand? Was würdest du tun, wenn ich dir sage, dass ich nach ihr gesucht habe, nachdem ich hörte, was ihrer Familie widerfahren war?“ Aufmerksam musterte Meister Albion seinen Schüler. „Constantin, was würdest du tun, wenn ich dir sage, dass Aurelia nicht diejenige ist, die sie glaubt zu sein?“
Constantin benötigte einen Moment, um zu antworten. „Wie meint Ihr das? Aurelia ist, wer sie ist...“
Meister Albion seufzte schwer. „Constantin... was habe ich euch über die Geschichtsschreibung beigebracht?“
„Es gibt immer zwei Seiten der Geschichte. Es gibt diejenigen, die sie erleben und diejenigen, die sie erzählen“, antwortete Constantin mechanisch. „Aber was hat dies mit Aurelia zu tun?“
„Das wirst du zu gegebener Zeit erfahren“, wiegelte Meister Albion plötzlich ab.
„Meister, das ist nicht gerecht!“, begehrte Constantin auf.
„Das Leben ist niemals gerecht“, konterte der Meister und stützte sich auf seinen Stab. Einen Moment lang starrte er schweigend zu Boden. „Du hast sie wirklich sehr gern, nicht wahr?“
„Ich... ja...“, stammelte Constantin verblüfft und spürte, wie sich seine Ohren leuchtend rot verfärbten.
„Hab keine Sorge. Ihr wird nichts geschehen.“ Meister Albion ging auf ihn zu und legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter.
„Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein?“
„Ich weiß es“, lautete die einfache Antwort. Der Meister ließ ihn los und schritt auf die Tür zu.
„Meister?“, hielt Constantin ihn zurück. „Warum hat Aurelia nie über die Zeit, bevor sie zum Orden kam, gesprochen?“
Meister Albion schien seine Worte zu bedenken, bevor er antwortete. „Man kann seine Vergangenheit nicht ändern. Sie haftet an einem wie der eigene Schatten. Sie zu akzeptieren und daran zu wachsen, zeugt von wahrer Stärke.“ Er sah Constantin über die Schulter an, dann öffnete er die Tür und trat hinaus. Constantin blieb alleine und völlig verwirrt zurück. Rätsel. Nichts als Rätsel!
Es dauerte eine Weile, bis sie die restlichen drei Männer gefunden hatten. Sie wirkten müden und erschöpft. Vermutlich hatten sie die ganze Nacht mit der Suche nach ihr verbracht. Einer der Männer trat vor.
„General, wir haben immer noch keine Spur von Haynes.“ Er reichte dem General ein Paar Handschellen. Dieser seufzte schwer und legte Aurelia die Ketten an.
Sie musterte das Metall. Rings um die Handschellen waren Runen der Magiebindung eingraviert. Zähneknirschend musste sie zugeben, dass die Männer keine Narren waren. Die Runen würden dafür sorgen, dass jeglicher Einsatz von Magie ihrerseits verpuffte. Die magische Kraft würde aufgenommen und an die Luft abgegeben werden. Sie würde nichts als heiße Luft erzeugen. Ungewollte musste sie darüber lachen. Der General musterte sie streng. Dann nahm er die lange Kette auf, die an den Handschellen befestigt war.
„Haynes wird nicht wieder zu uns stoßen. Er hatte einen... Unfall.“ Dabei warf er Aurelia einen vielsagenden Blick zu. Sie erwiderte seinen Blick, sagte aber nichts. Warum auch? Sie hätten ihr eh nicht geglaubt. Die Männer blickten sich unsicher an, stellten aber keine weiteren Fragen.
Da der Tag noch einige Stunden Licht bot, setzte sich die Gruppe in Bewegung. Die Männer hatten vier ihrer Pferde an der Hand. Das Fünfte lief noch alleine irgendwo im Wald herum, wie Aurelia sehr gut wusste. Als der Wald sich zu lichten begann, saßen sie auf. Aurelia musste zu Fuß neben dem Pferd des Generals laufen. Immer wenn sie einen Schritt zurückfiel, gab es einen unangenehmen Ruck an der Kette und sie stolperte nach vorne. Die Kräuter unter dem Verband an ihrem Oberschenkel verloren irgendwann ihre Wirkung und die Schmerzen kehrten zurück. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
Eine Weile ging es gut, doch dann wurden die Schmerzen zu groß und sie begann zu humpeln. Der General bemerkte es, zügelte sein Pferd und stieg ab. Er betrachtete den Verband an ihrem Bein, sagte aber nichts. Stattdessen hob er sie auf sein Pferd und führte es am Zügel. Seine Männer tauschten einige Blicke miteinander, verloren aber kein Wort darüber.
Als der Tag sich dem Ende neigte, erreichten sie den Waldrand. Erleichter darüber endlich den Wald hinter sich zu lassen und mit der Aussicht auf einige Stunden Schlaf, suchten die Soldaten trockenes Holz für ein kleines Lagerfeuer. Als das Feuer brannte, rollten sie ihre Decken aus und machten es sich bequem. Sie holten ihre Vorräte hervor und begannen schweigend zu essen, bis sie Aurelias hungrigen Blick bemerkten. Unschlüssig begannen sie miteinander zu flüstern, dann reichte jeder von ihnen Aurelia einen Teil seiner Ration herüber. Einer war sogar so freundlich und gab ihr seinen Wasserschlauch.
Aurelia