Im ersten Stock angekommen warf sie nur einen flüchtigen Blick nach links und rechts. Hier befanden sich lediglich die Zimmer des Meisters und der anderen, älteren Ordensmitglieder. Sie setzte ihren Weg in den zweiten Stock fort und wandte sie sich nach rechts, als sie das Ende der Treppe erreichte und hielt auf ihre Zimmertür zu. Sie hätte nachsehen können, ob Constantin im Nachbarzimmer gerade zugegen war, doch im Augenblick wollte sie lieber alleine sein.
Die Angeln ihrer Zimmertür knarrten, als sie sie öffnete. Das dahinter liegende Zimmer war nur spärlich eingerichtet. Neben einem Kleiderschrank und ihrem Bett, enthielt es nur noch einen kleinen Schreibtisch, der an der Wand neben dem Schrank stand. Sie schüttelte die Stiefel von den Füßen und ließ sich mit dem Kopf voran auf ihr Bett fallen. Draußen kündete das Licht der Nachmittagssonne von den ersten warmen Frühlingstagen. Wenn die Luft klar genug war, konnte man aus ihrem Fenster in nordöstlicher Richtung die Ausläufer des Schwarzfelsgebirges, welches die Grenze zum im Osten gelegenen Nachbarlandes Arthenholm bildete, sehen.
Sie überlegte, ob sie nicht einfach den restlichen Tag verschlafen sollte, aber das schlechte Gewissen nagte an ihr. Also wälzte sie sich von ihrem Bett und setzte sich an den Schreibtisch. Sie nahm einen Bogen Papier und einen Stift und begann langsam und akkurat magische Runen zu zeichnen. Strich für Strich formten sich die Symbole und für eine Weile vergaß sie alles um sich herum.
Die Nachtluft war kühl und roch nach Frühling. Der Himmel war wolkenlos und offenbarte seine Sternenpracht. Aurelia und Constantin saßen auf dem flachen Dach eines Wirtshauses. Er hatte sie abends zum Essen eingeladen und nachdem sie sich durch ganze drei Gänge geschmaust hatten, hatte er sie bei der Hand genommen und auf das Dach geführt.
Dort saßen sie nun, eng in ihre Umhänge gewickelt und starrten in den Himmel. Constantin stupste sie sachte an der Schulter und lächelte. Die wenigen Kerzen, die er aufgestellt hatte, spendeten schummriges Licht, sodass im Dunkeln der Nacht seine Gesichtszüge nur zu erahnen waren. Trotzdem erwiderte sie sein Lächeln und lehnte sich an ihn.
„Ich danke dir“, sagte sie leise.
„Dafür nicht. Du weißt, dass ich immer für dich da bin. Auch wenn du mir nicht erzählen magst, was damals geschehen ist. Wenn irgendwann der Tag kommen sollte, an dem du darüber sprechen möchtest, werde ich dir zuhören.“ Er löste eine Hand aus seinem Umhang und strich durch ihre langen Haare.
„Ich weiß und ich danke dir dafür.“ Sie nahm seine Hand und schaute zu ihm auf. Sie kannten sich nun schon so lange, doch noch immer zögerte sie, ihm von ihrer Vergangenheit zu erzählen. Sie wusste nicht warum sie solch ein Geheimnis daraus machte, aber sie schaffte es nicht die Erinnerungen, welche sie sorgsam verschlossen hielt, in Worte zu fassen. Constantin drehte den Kopf und seine warmen, braunen Augen suchten die ihren und blieben an ihnen haften.
Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Er hatte nie darüber gesprochen, doch sie wusste, wie er für sie empfand und es verwirrte sie. Einerseits suchte sie seine Nähe, vertraute ihm blind, andererseits fürchtete sie sich davor, die Linie tiefer Freundschaft zu übertreten.
Gefangen in seinem Blick, begannen ihre Gedanken wild zu rasen. Noch während er sich langsam zu ihr vorbeugte, nahm sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr. Überrascht blickte sie zur Seite und erstarrte.
„Was ist los?“ Constantin runzelte die Stirn.
Schnell legte sie ihm eine Hand auf den Mund und bedeutete ihm still zu sein. Vorsichtig schob sie sich an den Rand des flachen Daches und spähte nach unten. Ein stummer Fluch verließ ihre Lippen. Sie huschte zurück, fasste Constantin am Arm und zog ihn mit zur Tür.
„Beeil dich“, zischte sie ihm ins Ohr.
Die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er verdrehte den Hals, um über die Schulter zurück zu spähen. Scharf sog er die Luft ein, als er die Gestalten auf der Straße entdeckte. Es waren fünf an der Zahl. Vier von ihnen waren groß und schwer bewaffnet. Die fünfte war klein und gebeugt. Sie alle trugen das Symbol des Königs auf den Wämsern.
Mit wenigen Schritten waren Constantin und Aurelia an der Tür und auf der Treppe hinunter in die Gaststube.
„Was wollen Soldaten des Königs hier in einem so entlegenen Winkel des Landes?“, fragte er dicht an ihrem Ohr.
„Frag sie das doch selbst. Auf jeden Fall müssen wir dringend von hier weg.“ Sie wollte nicht schnippisch antworten, doch das Herz schlug ihr bereits bis zum Hals. Vorsichtig spähte sie um die Ecke durch den Schankraum zur Eingangstür. Wenn sie Glück hatten, würden die Soldaten selber nach ihren Pferden sehen und ihnen so die Gelegenheit geben, unbemerkt zu verschwinden.
Aurelia hakte Constantin unter und schob ihn zur Tür. Die Leute an den Tischen schwatzen laut. Einige betrunkene Männer an einem der hinteren Tische grölten und stießen die Gläser klirren zusammen.
„Du bist mir nachher eine Erklärung schuldig,“ sagte Constantin durch zusammengepresste Lippen.
Sie lächelte matt. Eine seiner besten Eigenschaften war es zum Glück, dass er handelte, wenn es darauf ankam und Fragen erst hinterher stellte.
Sie hatten die Tür fast erreicht, als diese mit einem lauten Knall nach innen aufflog. Einer nach dem Anderen traten die Soldaten ein und schienen keine Notiz von ihnen zu nehmen, bis der Blick des vordersten Mannes auf Aurelia fiel. Abrupt blieb er stehen und starrte sie an.
Er war groß, mindestens einen Kopf größer als sie, hatte dunkelbraunes, kurzes Haar und seine Augen waren grün... so grün wie die Wälder weiter im Norden. Aurelia war fasziniert und für einen Moment vergaß sie, welche Gefahr von dem Mann vor ihr ausging. Dann schob sich der kleinere Mann an dem Braunhaarigen vorbei. Er hatte einen Buckel, lange schwarze Haare und stützte sich schwer auf einen Stock. Als er Aurelia sah, grinste er breit.
Ein kalter Schauer fuhr Aurelias Rücken hinab. Sie griff Constantins Arm fester und wich einige Schritte zurück. Der kleine, bucklige Mann war ein Nekromant. Schlimmer noch: Bei dem Trupp handelte es sich um königliche Inquestoren.
Sie hatte es befürchtet, als sie die Männer vom Dach aus gesehen hatte und gehofft, dass sie sich irrte. Vergebens. Der Nekromant hob einen Finger und deutete auf sie.
„Eine Zauberin“, schnarrte er. „Das wird den König aber freuen.“ Aurelia fluchte innerlich. Magie erkannte Magie. Sie konnte es nicht einmal leugnen und sich mit einer Verwechslung herausreden. „General, sollen wir sie gefangen nehmen?“ Die hinteren Männer machten sich sogleich bereit. „General?“
Doch der Braunhaarige rührte sich nicht, sondern starrte noch immer Aurelia an.
„Was ist mit ihm?“, flüsterte Constantin leise.
„Keine Ahnung, aber lass uns verschwinden“, gab Aurelia ebenso leise zurück.
„GENERAL?!“ Der Nekromant schrie förmlich, als Aurelia und Constantin sich umdrehten und zur Rückseite der Schankstube stürmten. Endlich löste sich der General aus seiner Starre und gab den Männern den Befehl, die Verfolgung aufzunehmen. Inzwischen hatten Constantin und Aurelia bereits den Raum durchquert und waren in die Küche gestürzt. Töpfe und Pfannen flogen umher, als sie auf ihrer Flucht mit mehreren Köchen kollidierten. Flüche und wüste Beschimpfungen folgten ihnen, als sie die Hintertür des Gasthauses erreichten und in die Nacht hinaus sprangen. Sie hetzten die verwinkelten Gassen des Dorfes entlang, immer den Hang hinauf und zurück zum Orden.
„Aurelia, das war ein Trupp Inquestoren.“ Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage.
Sie