Erst Weihnachten 1868, als Ernst Wüst seine erste Anstellung als Lehrer in Königsberg erhalten hatte, kam es zur offiziellen Verlobung. Die Hochzeit fand im Oktober 1870 statt.
Auch im Sommer 1871 besuchten Ernst Leberecht Wüst und seine Martha die Mühle Slupp. Diesmal blieb die junge Ehefrau länger dort, weil sie ihr erstes Kind erwartete und weil der Haushalt in Königsberg zur Übersiedlung nach Danzig aufgelöst werden musste. Das Verbleiben in Slupp war für die junge Frau und ihr bald darauf geborenes Kind Ernst ein Glück, denn in den Monaten August und September 1871 wütete in Königsberg die Cholera, eine Seuche, deren Schrecken man sich heute kaum mehr richtig vorstellen kann.
Unser Urgroßvater Ernst Leberecht Wüst, brauchte sich auch später während seiner Zeit als Schuldirektor in Osterode nicht um Ferienreisen zu kümmern. Die Ferienzeit verbrachte die große Familie mit den Kindern meist auf dem Mühlengut Slupp bei der Mutter, bzw. Schwiegermutter bzw. Großeltern. Davon schreibt Ernst Wüst, der älteste Sohn des Schuldirektors, unser Onkel Viva:
„In Slupp wurde jeden Abend musiziert. Meine Großmutter und meine Mutter spielten beide hervorragend Klavier, besonders Chopin, - und daher stammt meine Liebe für diesen Komponisten. Dazu gesellte sich ein sehr guter Geiger: Inspektor Panschowski, der mit meiner Großmutter in der Dämmerung ohne Noten klassische Musik spielte, oft sich nur die Tonart zurufend. Es waren unvergessliche stimmungsvolle Abende. Im Musiksaal, dessen Fenster auf den Park gingen, war nur ein schwarzer Flügel aufgestellt, und an den Wänden rot gepolsterte Bänke. Im Park plätscherte leise die Fontäne, und die Fama erzählt, dass die Nachtigallen auf der Schwelle der weit geöffneten Tür saßen und zuhörten. – Außerdem spielten wir Vettern Quartett, leichte Musik, Ouvertüren, Zampa, Dichter und Bauer und mehr. Für die Zuhörer wohl nicht immer ein reiner Genuss, aber wir selber waren begeistert von unseren Leistungen.
Höhepunkt des Jahres waren Weihnachten und Neujahr. Im Saal standen drei riesige Tannenbäume, einer für die Familie, einer für das Gesinde, einer für die Hunde, mit Würsten behangen! Und Sylvester 24 Uhr erschienen alle Knechte vor dem Haus, und in der zauberhaften Kulisse des tief verschneiten Parks peitschten sie mit langen Peitschen das alte Jahr aus.“
Wenn man gleichzeitig Ziele in Raum und Zeit verfolgt, muss man früh aufstehen. Schlafen können wir zu Hause wieder. Um sechs Uhr klingelt der Wecker. Wir haben bei weit offenem Fenster prima geschlafen. Jetzt scheint schon die Sonne, so wie es sich für Sommer gehört, es ist windstill und warm. Vor dem Frühstück packen wir das Auto ein, Christoph und ich vertreten uns die Füße vor dem Hotel. Das Sträßchen scheint wie ausgestorben, wir sind die einzigen Gäste in der unauffälligen Siedlung.
Früh um acht Uhr sind wir wieder unterwegs. Was für riesige Dimensionen haben die Felder hier, die Landschaft ist so weit.
Und dann kommen wir an die Weichsel. Es gibt kaum Eindrucksvolleres als so mächtige, strömende Flüsse. Wir überqueren den Strom das erste Mal bei Thorn. Fahren langsam über die Brücke mit den hohen Stahlgerüsten. Das Wasser strömt silbergrau schimmernd unter dem hellen Sommerhimmel dahin.
Zum zweiten Mal sehen wir die Weichsel bei Graudenz, der Stadt mit dem geheimnisvoll düster klingenden Namen. Wieder gibt es so eine hohe Stahlbrücke. Wir sehen schon die Altstadt oberhalb der weiten Wiesen an der Uferböschung.
In den Weihnachtsferien 1870 besuchten die jungen Eheleute Ernst Leberecht Wüst und seine Frau Martha, (geb. Goldnick) Mühle Slupp, das Elternhaus der Martha. Von dieser ersten Reise als Ehepaar von Königsberg aus berichtet Ernst Leberecht Wüst in seiner Chronik:
„Eine Reise zur Winterzeit von Königsberg nach Graudenz und von Graudenz hinaus nach Slupp war dazumal mit erheblichen Strapazen und Fährlichkeiten verknüpft. Zwar die Bahnfahrt bis Warlubie an der Ostbahn war bald und leicht zurückgelegt, anstrengender und unbequemer war schon die Postfahrt von Warlubie bis zur Weichsel. Schlimm und gefährlich gestaltete sich erst die Überfahrt über den Weichselstrom, sobald dieser, wie es damals Weihnachten 1870 sich fügte, noch keine feste Eisdecke hatte, sondern „Eisgang“ herrschte. In großen und festen Booten, von starken und erfahrenen Fischern und Ruderknechten gerudert, mussten die Postreisenden Platz nehmen. Und nun begann zwischen den treibenden gewaltigen Eisschollen hin die Fahrt, bald gegen den Strom, bald der Strömung folgend, je nachdem eine Blänke, - also freies Wasser -, sich zeigte, eine Stunde und die zweite Stunde und dabei schneidende Kälte und eisiger Wind mit Schneetreiben. Wehe dem, der da nicht mit Pelzwerk und warmen Schuhen ausgestattet war.
Erst in der Nähe des Graudenzer Ufers war der Fluss zum Stehen gekommen, Bretter und Bohlen, hier bergauf, dort bergab führend, waren über die Schollen gelegt und bildeten eine Brücke, die nun betreten werden musste. Aus dem Kahn herausgehoben versuchte man festen Fuß zu fassen. Und siehe da, es glückte, und nun strebte man eilig dem festen Ufer zu, das endlich und mit Mühe erreicht wurde.
Graudenz
Mühle Slupp
Und bald war alle Gefahr wieder vergessen und in Tante Tinchens (das war eine vertraute Freundin der Rosenbaum-Familie, Schneiderin) Stube am warmen Ofen und bei einer Tasse heißem Kaffee wurde gefragt und erzählt, bis der Wagen aus Mühle Slupp vorgefahren war, der uns, die wir weiter noch in mitgebrachte Mäntel gehüllt wurden, aufnahm und uns nach weiteren drei Stunden von Graudenz über Salno und Orle an den Bestimmungsort brachte.“
Jenseits der Brücke und kurz unterhalb der historischen Altstadt finden wir einen Parkplatz. Wir gehen über Kopfsteinpflaster. Vor dem roten, hoch gemauerten Backstein-Stadttor, den hohen Häusern und den schon halb sichtbaren engen Gassen dahinter biegen wir aber über Betonplatten zum Wasser hinunter. Denn wir müssen natürlich mit den Füßen in den Fluss. Müssen die Weichsel hautnah zwischen den nackten Zehen spüren. Wir krempeln die Hosenbeine hoch, platschen über die dicken Steine und knietief ins Nass.
Augenblicke des Innehaltens, Atemholens, Umschauens den Strom entlang. Südlich seitwärts sehen wir die Brücke, dahinter eine Skyline von Hochhäusern. Vor uns die Altstadtkulisse mit wieder aufgebauten Backsteingemäuern und teilweise neuen, hellroten Ziegeldächern und sicher engen Gassen jenseits des Stadttors. Das lockt zwar, aber wir haben einen Zeitplan. Also schlüpfen wir wieder in die Sandalen.
Weiter geht es also nach Osten. Mengen von Störchen treffen sich zum Frühstück auf den ausgedehnten Wiesen.
In Grutta gibt es kein erkennbares Gasthaus mehr. Nur eine Kirche steht noch auf ihrem Hügel zwischen spärlichen Häusern. Vermutlich war auch hier das Gasthaus benachbart, gemäß der Regel, dass „K + K“, - Kirche und Kneipe -, zusammengehören. Hier also speiste die Familie, von Graudenz unterwegs nach Peterhoff in die Sommerfrische, zu Mittag. Auf dem Kirchhügel ist der alte Friedhof ordentlich angelegt, unterhalb ein großer, neuer. Die vielen Heiligenfiguren und hohen, gemauerten Grabmäler sind natürlich von der heutigen, katholischen Bevölkerung.
Wieder sehen wir Störche auf der Weiterfahrt zum Orla-Besitz. Der gehörte zum Schloss Peterhoff. Das dazugehörige Gutshaus ist noch vorhanden. Dort waren früher also die Waisenjungen als Stipendiaten untergebracht. Es gibt ein verlandetes Seeufer mit herrlich wilder Blumenpracht. Und ringsum verwilderter Wald, ungepflegte, halb zugewachsene, holprige sandige Feldwege, Gebüsch und Gestrüpp.
Dann kommen wir aber erstmal den