Als Antwort stieß Keira nur ein tiefes Seufzen aus und blickte betrübt auf ihren Knöchel.
Da dämmerte es Lia plötzlich. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Es ist ein magisches Geheimnis, nicht wahr?“
Keira nickte. Ein magisches Geheimnis verkomplizierte die Sache nur noch. Die Seherin konnte durch eine Rune auf ihrem Knöchel, eine kleine Sichel mit einem ausgefüllten Punkt in der Mitte, bestimmte Dinge, die zum Kreis des aufbewahrten Wissens der Jahrhunderte gehörte, nicht verraten. Ansonsten würde die Magie der Todesrune sie sofort töten.
„Das gestaltet die Sache nicht gerade einfach“, warf Enago ein.
Lysia nickte. „Gibt es keinen anderen Weg, der uns verraten könnte, an was du denkst?“
Keira schüttelte den Kopf. „Wir müssen uns eine Alternative überlegen. Oder ihr müsst mir einfach blind vertrauen.“
Lia schluckte. Natürlich wusste sie, dass sie der jungen Frau vertrauen konnte. Keira war zu gutherzig und zu klug, um sie zu verraten oder einen unüberlegten Vorschlag zu äußern. Dennoch gefiel es ihr nicht, ohne jegliches Wissen einfach so an einen unbekannten Ort zu gehen. Sie wollte schon widersprechen, wollte sagen, dass es keine gute Idee war, sich einfach so ins Unbekannte zu wagen, als ihr Lysia zuvorkam.
„Ich finde, wir sollten Keira vertrauen!“
Sofort besaß das Orakel die Aufmerksamkeit der Gefährten. Sie zuckte verlegen mit den Achseln.
„Sie kann uns zwar nicht sagen, wo wir den Stein hinbringen, dennoch finde ich, dass es keinen Grund gibt, ihr nicht zu vertrauen. Sie weiß, was sie tut. Obendrein haben wir im Moment keinen besseren Vorschlag oder sehe ich das falsch?“
Enago schüttelte den Kopf. „Ich denke, du hast Recht, Lysia. Es gibt keinen Grund, ihr nicht zu vertrauen. Sie hat damals, als der Schatten noch nicht eingesperrt war, versucht, uns zu helfen, indem sie uns zu Lysia bringen wollte. Sie hatte das Orakel in einer Vision gesehen und ich denke, dass das mehr als hilfreich war.“
Er schenkte Keira ein kurzes Lächeln, das sie sofort erwiderte. Jetzt drehten sich alle Köpfe zu Lia herum. Die Todes Tochter blickte mit ihren roten Augen in die einzelnen Gesichter. Sie hatte eigentlich keine Wahl mehr.
„Kennst du denn auch ganz bestimmt den Weg, Keira? Kennst du die Gefahren, die uns möglicherweise erwarten können?“
„Also ist es beschlossen?“, fragte die junge Frau.
„Es ist beschlossen!“
Gerade als die Worte den Mund des jungen Mädchens verließen, fiel ihr Blick auf Enago. Ihre Augen wanderten an seinem Körper hinab bis hin zur Hüfte und was sie dort sah, versetzte ihr einen gewaltigen Stoß. Es war, als ob jegliche Luft aus ihren Lungen gepresst worden wäre. Ihr Kopf begann zu schmerzen, ihr wurde schwindelig.
„Nein“, hauchte sie. Doch sie konnte nicht leugnen, was sie soeben erblickt hatte.
Enago legte die Stirn in Falten. Ihm war Lias entsetzter Blick natürlich nicht entgangen.
„Was hast du?“, fragte er.
„Wie konntest du?!“ Lia wollte nicht schreien, wollte so verhindern, dass ihr die Tränen kamen, doch es war zu spät. Der Anblick von Ragons alter Waffe, die nun am Gürtel ihres Gefährten hing, riss die Wunden in ihrer Seele von Neuem auf. Die Todes Tochter konnte fast fühlen, wie ihr Herz zu bluten begann.
„Wie konntest du?“, schrie sie noch einmal und machte einen Schritt auf den völlig verblüfften Enago zu. Ihre Augen blitzten gefährlich auf und auf dem Gesicht des jungen Mannes trat eine Mischung aus Unverständnis und Angst. Plötzlich spürte sie, wie sich eine Hand auf ihrer Schulter legte.
„Was hast du, Lia?“
Keiras schöne Stimme beruhigte sie für einen kurzen Moment. Doch als die erste Träne auf den Boden tropfte und dort in alle Richtungen zerlief, verlor sie sich endgültig. Mit einem kräftigen Ruck schüttelte sie die Hand von ihrer Schulter und zeigte anschuldigend mit dem Finger auf Enagos Gürtel.
„Woher hast du das?“, fragte sie. „Woher!“
Endlich dämmerte es ihm. Ohne die Todes Tochter aus den Augen zu lassen, umfasste er den silbernen Schwertgriff und zog ihn aus dem Gürtel.
„Lass es mich erklären“, antwortete er. „Er hat es mir geschenkt. Als er … starb.“ Enago fuhr sich mit einer Hand nervös durch die Haare, suchte nach passenden Worten.
„Er gab es mir, nachdem Keira dich aus der Höhle gebracht hatte. Ich soll dich damit weiterhin beschützen …, ich soll dir als dritter Todesritter im Kampf zur Seite stehen.“
Enago verstummte. Er erwartete, dass Lia ihn weiter anschreien, beschimpfen oder ihm Vorwürfe machen würde, doch das tat sie nicht. Sie stand mit verschränkten Armen vor ihm und starrte ihn aus ihren blutroten Augen an. Enago hätte es zweifellos bevorzugt, wenn sie ihn angeschrien hätte. Ihre Augen blitzten immer wieder im Licht der Fackeln zornig auf, sodass es dem jungen Mann eiskalt den Rücken hinunterlief. In seiner Zeit als Schattendiener hatte er fast täglich die Qualen der Angst spüren müssen. Doch die Angst, die ihn jetzt befiel, war ihm völlig fremd. Die Todes Tochter strahlte etwas Tödliches aus, etwas, das Enago als Schmerz deutete. Langsam ließ er das Schwert zurückgleiten und ging mutig einen Schritt auf das Mädchen zu.
„Bitte“, flüsterte er, „ich wollte dich damit ganz bestimmt nicht verletzen und Ragon erst recht nicht! Er hat es für dich getan, um dich weiterhin zu schützen.“
Lia stieß plötzlich ein heiseres Lachen aus. „Wie willst du mich mit einem Schwert beschützen, dem der wichtigste Teil fehlt?“
Enago seufzte. „Ich …“
Er brach ab, als Keira sich neben ihn stellte und ihre Hand auf seinen Arm legte. Ihre Berührung durchfuhr ihn, sein Herz begann schneller zu schlagen und auch wenn er wusste, dass sie ihm nur den Rücken stärken wollte, bildete er sich ein, es hätte mehr zu bedeuten.
„Enago muss sich die Schneide erst durch eine selbstlose Tat verdienen. Solange wird er dich mit seinem alten Schwert beschützen müssen.“
Die Stimme der Seherin klang wie immer weich und gelassen. Doch Enago spürte auch, dass sie mit ihrem Einschreiten ein Zeichen gesetzt hatte. Lia ließ nur ein verächtliches Schnauben ertönen. Enago verstand, weshalb Lia der Zorn ins Gesicht geschrieben stand. Der Tod ihres Gefährten war noch zu frisch und er riss die alten Wunden gerade wieder auf.
„Ich werde mein Bestes geben, um den Anforderungen eines Todesritters gerecht zu werden, das verspreche ich dir!“ Er machte noch einen Schritt auf Lia zu und wagte ein kurzes, vorsichtiges Lächeln, das sie mit ihrem eisigen Blick jedoch sofort wieder erstickte.
„Ich bin mir sicher, dass du das versuchen wirst“, sagte sie. „Aber glaube ja nicht, dass du ihn jemals ersetzen kannst!“
Geflüster
Dragan lag auf dem Boden seiner kleinen Hütte. Er hielt seine Augen krampfhaft geschlossen, während er sich unter wilden Zuckungen auf dem Boden wandte. Seine Hände waren zu Fäusten geballt und er musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht unkontrolliert zu schreien. Selbst wenn er die Kontrolle über seine Stimme verloren hätte, es würde ihm wahrscheinlich wenig nützen, denn Dragan lebte allein. Schon als kleiner Junge hatte er vorrangig die Einsamkeit gesucht, sich so gut es ging abgeschirmt. Und auch jetzt lebte er in seiner kleinen Hütte am Rande des Waldes, weit weg von der Stadt. Selbst wenn er um Hilfe schrie, niemand würde ihn hören. Der Wind trüge seine Klagelaute in die Tiefen des Waldes, zwischen die Bäume, in die Nacht hinein. Das sanfte Licht des Mondes fiel durch ein Fenster und tauchte seine Gestalt in ein helles Blau. Die Kerze, die Dragan noch bis eben in der Hand gehalten hatte, war erloschen, als sie zu Boden fiel.
Der plötzlich eintretende Schmerz hatte den