„Hier ist es“, flüsterte sie und zog Lysia am Ärmel nach unten.
Vorsichtig näherten sich beide dem dunklen Schlund. Mit der einen Hand hielt Lia immer noch die des Orakels, mit der anderen umklammerte sie nun den oberen Teil der Mauer und streckte dann den Kopf in den großen Spalt hinein. Es war, als ob sie durch das schlammige Wasser eines Tümpels watete und das Mädchen musste automatisch die Luft anhalten, um nicht von dem Gefühl übermannt zu werden, sie könnte ersticken. Auf der anderen Seite des Schlundes holte sie tief Luft, ehe sie in den Abgrund blickte. Schon als sie noch am Boden gestanden und den Übergang betrachtete hatte, war in ihr die Furcht herangereift, sie könnte die Höhe unterschätzt haben. Doch was sie nun erblickte, ließ ihr Herz einen Sprung lang aussetzen. Sie hatte sich getäuscht und zwar gewaltig. Der Abgrund unter ihr wirkte im ersten Moment bodenlos, das nachtschwarze Gras wie ein Meer aus tausend Schatten, die nur darauf warteten, sie zu verschlingen.
„Lia?“ Die Stimme des Orakels riss sie aus ihrer Furcht. „Lia, was ist denn?“
Die Todes Tochter hatte im ersten Moment des Schreckens nicht bemerkt, wie sie ihre Fingernägel in die Hand ihrer Gefährtin geschlagen hatte. Schnell lockerte wieder sie ihren Griff und zog ihren Kopf aus dem schwarzen Schlund.
„Nichts“, antwortete sie. Ihre Stimme zitterte ein wenig und Lia selbst begann an ihren Worten zu zweifeln.
Auch das Orakel misstraute ihr. Auch wenn sie ihre Kraft als Seelenseherin in dieser Finsternis nicht verwenden konnte, so wusste sie dennoch ganz genau, dass Lia log.
„Ist es zu tief?“, fragte sie. „Noch können wir umkehren. Wir finden auch anderswo …“
„Nein“, unterbrach Lia sie barsch. Sie merkte, wie das Orakel unter ihrer eiskalten Stimme zusammenzuckte.
Während Lysia gesprochen hatte, war in Lia mit einmal Mal der Zorn entflammt. Sie hatte es tatsächlich gewagt, Furcht zu spüren, hatte es zugelassen, dass die Angst ihrem Plan im Weg stand, ihn zum Scheitern verurteilen wollte. Wie konnte sie so etwas nur zulassen! Die Todes Tochter spürte, wie sich eine eisige Kälte in ihrem Inneren auszubreiten begann. Sie fraß sich langsam durch ihre Seele, setzte sich in ihren Kopf. Nein, sie kannte keine Furcht, sie kannte nur ihre Aufgabe, ihr Schicksal. Das alleine zählte. Sie strich sich eine störende Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter ihr Ohr.
„Nein“, flüsterte sie, ohne den plötzlichen Hass in ihrer Stimme verbergen zu wollen. „Es ist nicht zu hoch. Nur etwas höher, als ich dachte. Komm jetzt, es wird Zeit.“
Mit diesen Worten zog sie das Orakel langsam in den klaffenden Spalt hinein, bis ihre Füße über den Abgrund baumelten. Dann setzte sie sich neben sie.
„Zieh deine Waffe“, wies sie das Orakel an und schon bald vernahm sie das vertraute Geräusch klirrenden Metalls. In Gedanken sah sie dabei das Bild ihrer blutroten Augen. Sie grinste. Ob ihre Augen in der Nacht leuchteten wie die eines wilden Tieres? Ihre Feinde würden vor ihr erzittern, allein wenn sie ihre Augen sahen, den Tod in ihnen erblickten und sie würden wissen, dass ihr Ende gekommen war. Plötzlich vernahm sie leises Hufgetrappel, das sich langsam näherte.
„Es geht los“, hörte sie das Orakel sagen.
Die Geräusche wurden lauter und schon bald erblickte das Mädchen zwei Reiter, die sich langsam näherten. Unruhig rutschte sie noch ein Stück nach vorne, immer darauf bedacht, nicht den Halt zu verlieren. Ihr Plan war verrückt, eindeutig nicht vorhersehbar und genau das war es, was Lia dazu bewogen hatte, ihn durchzuziehen. Für die beiden Soldaten würden sie Gestalten aus der Nacht sein, schnell und genauso tödlich, und ehe sie auch nur begriffen, was sich über ihren Köpfen abspielte, würden sie sich in der Hölle wiederfinden.
Einer der beiden Reiter trug eine Fackel in der Hand. Das Lodern des Feuers tauchte ihre grimmigen Gesichter in ein geheimnisvolles Licht. Vorsichtig zog Lia Rufus aus ihrem Gürtel. Schon bald würden ihre entschlossenen Gesichtsausdrücke der Angst weichen.
„Warte auf mein Zeichen“, flüsterte sie in Lysias Richtung. Sie konnte die Anspannung des Orakels geradezu fühlen, dennoch nicht mehr vollständig nachvollziehen. Lysia sah kaum etwas in der Finsternis, sie konnte den drohenden Abgrund unter ihr nicht einschätzen und musste darauf vertrauen, dass Lia das Zeichen zum richtigen Augenblick aussprach. Aber vielleicht war es auch genau das, wovor sie sich fürchtete – Lia zu vertrauen. Das Mädchen verwarf den Gedanken schnell wieder. Wenn sie ihr nicht vertraute, warum sonst sollte sie dann hier oben sitzen?
Die Soldaten waren jetzt fast unter ihnen. Lia umfasste Rufus Griff so fest, dass sich ihre Haut weiß färbte. Noch einen kurzen Augenblick …
„Spring!“, rief sie Lysia zu.
In dem Moment, in dem sich die Todes Tochter und das Orakel von der Mauer fallen ließen, wusste Lia, dass sie den Abstand richtig eingeschätzt hatte. Sie und Lysia würden da landen, wo sie es beabsichtigt hatte und nicht im nachtschwarzen Gras zerschellen.
Lias Kleid wölbte sich im Wind und ließ sie wie einen schwarzen Falken aussehen, der sich aus dem Himmel auf seine Beute hinabstürzte. Mit einem schmerzhaften Aufprall landete sie schließlich hinter dem Soldaten im Sattel. Das Pferd erschrak fürchterlich, als es plötzlich zwei Reiter im Sattel spürte und bäumte sich auf. Lia klammerte sich hastig an der Rüstung des Soldaten fest und nutzte den mitgebrachten Schwung des Tieres, um den Kopf des Mannes nach hinten zu reißen und seine Kehle zu entblößen.
Kraftvoll zog sie ihre Waffe durch den Hals des Soldaten. Im Bruchteil einer Sekunde durchtrennte sie seine Pulsschlagader und nahm ihm damit jegliche Chance auf Gegenwehr. Warmes Blut spritzte aus der Kehle des Mannes hervor und befleckte den muskulösen Hals des Pferdes. Der Gestank des Todes begann sich augenblicklich auszubreiten. Die Todes Tochter steckte Rufus zurück in den Gürtel. Sie packte den Kopf des Mannes mit beiden Händen und drehte ihn zu sich herum. Mit einem grässlichen Krachen brach das Genick des Mannes und Lia sah mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht dabei zu, wie er nun völlig auf die andere Seite hinüberglitt. Sie schloss die Augen und atmete ein letztes Mal den Duft des Todes ein, dann stieß sie den toten Soldaten vom Pferd.
Nachdem sie die Leiche aus dem Sattel gehoben hatte, griff sie augenblicklich nach den Zügeln, um zu verhindern, dass das Tier mit ihr durchgehen konnte. Als sich das Pferd wieder einigermaßen beruhigt hatte, suchte sie die Nacht sofort nach ihrer Gefährtin ab. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nur ein paar Meter neben ihr auf dem zweiten Pferd saß und sich ebenfalls des Soldaten vor ihr entledigt hatte. Das Orakel gab ihr mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass sie bereit war.
Schnell wischte sich die Todes Tochter das Blut von ihren Händen, dann stieß sie ihrem Tier die Fersen in die Seiten. Es war ein ungewohntes Gefühl, wieder auf einem Pferd zu sitzen. Sie spürte den warmen Bauch an ihren Schenkeln, hörte den schnaubenden Atem des Lebewesens. Während sie im gestreckten Galopp an der Mauer entlangstürmten, durchbrach der erste Sonnenstrahl plötzlich die Dunkelheit und färbte den Horizont in ein feuriges Gelb. Lia kniff die Augen zusammen. Das plötzliche Licht brannte in ihrem Gesicht, sodass sie kurz den Überblick verlor. Neben ihr tauchte das Orakel auf. Sie hatte sich in die Steigbügel gestellt und hielt eine neue Klinge in ihrer Hand. Auch Lia befreite Rufus aufs Neue, denn natürlich war ihre nächtliche Aktion nicht unbemerkt geblieben. Die erstickenden Laute der Soldaten, das anfängliche Wiehern der Pferde hatten die beiden anderen Soldaten herbeieilen lassen, die zusammen mit ihren nun toten Gefährten diese Nacht Wache hatten halten sollen.
„Sie kommen!“, vernahm Lia den warnenden Ruf des Orakels.
Sie blickte zwischen den Ohren des Tieres hindurch und tatsächlich sah sie, wie zwei weitere Soldaten ihnen ebenfalls im Galopp entgegenkamen. Die Todes Tochter entfernte sich einige Meter vom Orakel und verdeutlichte ihr damit, welchen der beiden Männer sie töten wollte.
Lysia packte ihren Dolch an der Klinge und hielt sich lediglich mit einer Hand am Zügel