„Warte!“
Lysia runzelte verwundert die Stirn, setzte sich aber wieder zurück auf ihren Stuhl.
„Was ist?“, fragte sie angespannt.
„Ich …, meine Wandlung“, begann Lia zögerlich. „Die Mischung aus Schmerz und dunkler Magie, macht sie mich kalt? Lässt sie mich in Gefühllosigkeit versinken?“
„Warum willst du das wissen?“ Die Augen des Orakels hatten sich zu kleinen Schlitzen verengt und das freundliche Funkeln, das jeden augenblicklich in seinen Bann zog, war verschwunden.
„Bitte, Lysia, ich muss es wissen. Werden meine guten Gefühle, wird das Positive in mir mit der Zeit verblassen, sodass nur noch der Zorn Platz in mir findet?“
„Spürst du es etwa?“
Lia konnte die Furcht in den Augen des Orakels erkennen.
„Spürst du die Kälte?“
„Bitte Lysia, sag mir einfach nur, was ich wissen möchte!“ Es lag nicht in Lias Absicht, zu schreien, dennoch konnte sie den aufbrausenden Unterton in ihrer Stimme nicht vermeiden.
Lysia starrte sie einen kurzen Moment lang unsicher an, dann nickte sie zaghaft.
„Ja, genauso ist es. Das, was wir mit dem Bösen verbinden, erscheint in unseren Gedanken meist anders, als es in Wirklichkeit ist. Dabei kann die dunkle Seite, sollte sie überwiegen, in vielen verschiedenen Variationen auftreten.“
Lia ließ sich langsam in den Stuhl zurücksinken und schloss die Augen. Zu viele Informationen prasselten gerade auf sie herab und verlangten danach, erst einmal in Ruhe überdacht zu werden.
„Warum?“, fragte Lysia schließlich leise. „Warum fragst du? Kannst du es etwa schon spüren?“
„Nein“, die Todes Tochter schüttelte langsam den Kopf. „Ragon, er trug dieses Leid, diesen Schmerz aber offenbar in sich. Ich habe einmal gesehen, wie seine Augen rot aufblitzen, als er mir von Lucio erzählte. Sie leuchteten rot, als er mir vom Tod des ersten Todesritters erzählte und davon, dass er ihn nicht verhindern konnte.“ Lia öffnete ihre Augen wieder und sah, wie das Orakel nickte.
„Ihr wurdet alle aus dem Blut des Zauberers Lunus erschaffen. Dies verleiht euch vielleicht diese ganz besondere Verbindung.“
Auch Lia nickte. Mit einer Hand fuhr sie über die zwei schwarzen Schwerter, die sie mit einem Gürtel an ihrer Seite befestigt hatte. Sie fuhr über grünen Edelstein, der in Viridis eingearbeitet worden war. Sie fuhr über den roten in Rufus und mit Erschrecken stellte sie fest, dass sie bei seiner Berührung die Kälte ganz deutlich spürte.
Ein Versteck für den Stein
„Ich verstehe nicht, warum wir uns darum kümmern müssen, wo wir den schwarzen Stein aufbewahren.“ Enago verschränkte die Arme vor der Brust und starrte Lysia aus seinen wilden braunen Augen fragend an.
Das Orakel erwiderte seinen sturen Blick mit einem kurzen Lächeln.
„Ich habe nur gesagt, dass es wichtig wäre, einen geeigneten Ort für ihn zu finden. Schließlich ist er das Gefängnis einer Höllenkreatur und das sollten wir beim besten Willen nicht vergessen.“
Lysia stützte ihren Kopf auf eine Handfläche und lehnte sich gelassen in ihrem Thron zurück. Nach ihrem Gespräch mit der Todes Tochter waren sie in der Haupthalle der Orbis-Höhle auf Keira und Enago gestoßen. Eine Zeit lang hatte die Stille geherrscht, niemand hatte es gewagt, ein Wort zu sagen, bis Lysia schließlich doch das Schweigen unterbrochen hatte.
Lia stützte sich mit einem Arm auf der Lehne des Throns ab und starrte mit einem nahezu ausdruckslosen Gesichtsausdruck in die Runde.
„Ich muss Lysia recht geben“, sagte sie schließlich. „Wir müssen uns auf einen Platz einigen, wo wir den schwarzen Stein aufbewahren können. Ich verspüre nicht das Verlangen, ihn bis an mein Lebensende in der Tasche herumzutragen!“
Ganz automatisch fuhr sie mit ihrer Hand in die eingenähte Tasche ihres Kleides und umfasste den kleinen Gegenstand in ihr. Er fühlte sich warm und vertraut an und doch verabscheute die Todes Tochter ihn aus tiefstem Herzen. Langsam zog sie ihn heraus. Ihre Hand war zur Faust geballt und erst als ihre Hand weiß wurde, öffnete sie sie. Der Stein glänzte makellos und mächtig. Doch als Lia ihn drehte, konnte man dünne Linien erkennen, die sich durch seine Oberfläche zogen und in ihm Risse hervorriefen.
Dieser Makel bildete das Wort Surah. Die Göttin Surah gebot über das Leben und den Tod und ihre Macht war vor langer Zeit dem Zauberer Lunus in Form des schwarzen Steins zum Schutz überreicht worden. Doch dann war der Schatten aus der Hölle entkommen und nach einer langen Reise hatte sich ihr aller Schicksal gewendet. Im entscheidenden Kampf gegen den Schatten hatte Lia erfahren, dass der Zauberer ihr damals die Kräfte übergeben und so aus einem einst mächtigen Artefakt einen gewöhnlichen Stein gemacht hatte. Jetzt war der Stein, der der Höllenkreatur eigentlich zum Sieg hatte verhelfen sollen, zu seinem Gefängnis geworden. Der Schatten befand sich in ihm und Lia verspürte jedes Mal ein unangenehmes Kribbeln auf ihrer Haut, wenn sie die Oberfläche des Steins berührte. Es war, als ob er sich in ihre Handfläche fressen würde, um ihrem Griff zu entfliehen.
Nachdem sich die Todes Tochter versichert hatte, dass ihre Gefährten beim Anblick des schwarzen Steins genau die gleiche Verachtung und Abscheu empfanden, steckte sie ihn zurück in ihre Tasche, froh, das lästige Kribbeln wieder los zu sein.
„Wenn ihr ihn unbedingt loswerden wollt, dann werft ihn doch einfach weg oder versenkt den Stein in einem tiefen See.“
„Wir wollen den Stein nicht loswerden, nur sicher verwahren!“, entgegnete Lysia und verdrehte dabei genervt die Augen.
Enago verstand die Situation noch immer nicht. „Auf dem Grund eines Sees ist er sicher verwahrt!“ Auf dem Gesicht des jungen Mannes erschien ein kurzes Grinsen, das jedoch schnell wieder erlosch, als er nur finstere Blicke erntete.
„Es stimmt, wir sollten ihn nicht hierbehalten“, warf nun auch Keira ein. Ihre langen blonden Haare glänzten im blauen Licht der Fackeln und Enago spürte, wie beim Anblick ihrer makellosen Gestalt seine Knie zu zittern begannen.
„Es wäre nicht klug, unseren Feind, auch wenn er gefangen ist, in unserer Nähe zu behalten. Er lebt noch und seine Gedanken sind so dunkel wie zuvor. Wir benötigen einen Ort, den niemand so schnell aufspürt, an dem ihn menschliche, immer noch treu ergebene Schattendiener nicht finden. Die Orbis-Höhle ist zwar ein gut verborgener Platz, jedoch befürchte ich, dass uns die Nähe der Höllenkreatur schaden wird.“
Die Todes Tochter stimmte der Seherin mit einem kurzen Nicken zu. „Ich gebe dir Recht. Seitdem ich den Stein in meiner Tasche trage, kann ich seine Präsenz mal mehr, mal weniger deutlich spüren. Es ist, als ob mich seine toten weißen Augen ständig beobachten, jeden meiner Schritte verfolgen.“
Enago erschauderte bei dem Gedanken, dass sein ehemaliger Meister Notiz von ihnen nahm und möglicherweise sogar ihre Gespräche belauschte.
„Wir müssen einen Platz finden, an dem der Stein sicher ist und nicht gefunden werden kann“, erklärte Lia. „ Jedoch bin ich mir sicher, dass ihr euch bewusst seid, dass solche Plätze kaum noch existieren!“
„Damit wirst du leider Recht haben!“ Keira schlug betrübt den Blick nieder. „Die Welt ist nicht mehr das, was sie einmal war. Die Menschen sind begierig, ihre größten Geheimnisse zu entdecken, sie lassen sich mit gefährlichen Kräften