Sie befand sich auf einem großen Platz. Eine völlig vertrocknete Wiese kam unter den Hufen der Pferde zum Vorschein, erstreckte sich weit ins Land hinein und verschwand hinter fernen Bergen. Im Gegensatz zu den mächtigen Bäumen, die sich eben noch vor ihnen aufgestellt hatten, verteilten sich geradezu mickrige, vertrocknete Bäume in unregelmäßigen Abständen über den ganzen Platz. Ihre Stämme waren kaum dicker als Lias geballte Faust und das kleinste Lüftchen brachte sie gefährlich ins Wanken. Ihre Äste versuchten dennoch weiter in die Höhe zu wachsen, waren geradezu besessen, ihre dünnen Finger in das schmutzige Grau des Himmels zu tauchen. Immer wieder suchten Lias Augen nach der Sonne, sehnten sich nach einem kurzen Aufblitzen oder einem grellen Strahl. Nicht, dass die Todes Tochter grelles Tageslicht der Dunkelheit der Nacht vorzog, doch das matte Licht, das keinen Ursprung besaß, ließ das Mädchen erschaudern. Wenige Meter von Lia entfernt befand sich die Quelle des bestialischen Gestanks. Es war ein großer See, an dem ein Strand aus kleinen spitzen Steinen lag. Die Steine waren mit einer Schicht dicken Schlamms bezogen und Lia war sich sicher, dass das braune Wasser des Sees der Grund dafür war. Ihr Blick fiel auf ihre Gefährten. Erleichtert stellte sie fest, dass auch ihre Erwartungen enttäuscht worden waren und der Ort in ihnen mehr Unbehagen auslöste, als dass er ihnen Sicherheit gab. Nur auf dem Gesicht der Seherin blieb der Ausdruck von Fröhlichkeit weiterhin ungebrochen.
„Und hier willst du wirklich den schwarzen Stein verstecken?“ Enago sprach das aus, was sich Lia von der ersten Sekunde an gefragt hatte. „Versteh mich nicht falsch“, der junge Mann hob beschwichtigend eine Hand. „Aber dieser Ort hier sieht meiner Meinung nach alles andere als sicher aus!“
Seine Bemerkung löste bei Keira jedoch nicht etwa Entrüstung oder wenigstens einen Anflug der Enttäuschung aus, wie Lia es erwartete, sondern belustigte sie geradezu.
„Denkt ihr etwa wirklich, das hier ist der Ort, von dem ich euch erzählt habe?“ Es reichte ein kurzer Blick in die unsicheren Gesichter ihrer Gefährten und die junge Frau kannte die Antwort. „Sorgt euch nicht“, beruhigte sie sie. „Unser eigentliches Ziel liegt noch ein Stück von uns entfernt.“
In ihren Augen blitzte trotz des wenigen Lichts ein heller Funke, der ihrem ohnehin schon makellosen Gesicht etwas Besonderes verlieh. Vorsichtig ließ sich die Seherin aus dem Sattel gleiten. Als ihre Füße den Boden berührten, stiegen auch die anderen von ihren Tieren herunter.
„Im Prinzip habt ihr nicht unrecht“, gab Keira zu. „Der Zugang zu dem Ort, an dem wir den Stein verstecken, liegt hier.“
„Warte mal kurz“, unterbrach Lia sie. „Ich dachte, die grauen Bäume wären der Eingang zu dem Versteck!“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Enago ihr mit einem kurzen Nicken zustimmte.
Lysia dagegen interessierte das Gespräch über den richtigen Platz nicht mehr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie gebannt auf einen kleinen lilafarben glänzenden Käfer, der mit müden Bewegungen an einem Stamm hochkletterte.
„Manchmal gibt es Orte, die von deren Mitwissern so gut im Verborgenen gehalten werden, dass man sie nicht nur durch ein mystisches Schlüsselloch in einem ungeheuer großen Baum erreichen kann.“
Lia konnte spüren, wie sich etwas in ihrem Inneren regte. Ungeduld gehörte normalerweise nicht zu ihren Eigenschaften, doch in diesem Moment merkte sie, dass sie es mehr als leid war, Keiras geheimnisvolle Spielchen noch länger mitzuspielen.
„Sag uns doch einfach, wohin wir den Stein bringen müssen! Oder fällst du sofort tot um, wenn du uns sagst, wo wir langgehen sollen?“ Ihre Worte waren scharf und in ihrer Stimme lag etwas, das sich wie ein Fauchen anhörte.
Keira zuckte erschreckt zusammen und das erste Mal seit ihrem Aufbruch wich ihr freundliches Lächeln einer ernsten Miene. Enago sah sie ungläubig an und Lysia riss ihre Augen von dem glänzenden Käfer, um sie mit einem tadelnden Blick anzusehen.
„Was ist denn?“
Lia spürte, wie drei Paar Augen sie unverständlich musterten. Die Seherin hatte für einen kurzen Augenblick die Fassung verloren, doch ihre verwirrte Miene verschwand fast so schnell wieder, wie sie gekommen war und das schöne Lächeln nahm wieder seinen Platz ein.
„Ich kann euch nicht genau sagen, wohin wir den Stein bringen werden, denn das würde die Magie der Rune tatsächlich nicht zulassen, Todes Tochter. Aber ich kann euch nun verraten, wo wir langgehen müssen, denn wir sind nahezu am Ziel und ein halber Weg gibt der Todesrune keinen Grund, mich umzubringen.“ Keira führte ihr Pferd an einen der kleinen Bäume und drehte sich dann zu Lysia um.
„Werden sie hier stehenbleiben, bis wir zurück sind? Das letzte Stück des Weges müssen wir zu Fuß gehen.“
Wie zur Antwort stellte das Orakel das Tier neben das von Keira. „Sie werden hier warten“, sagte sie. „Das ist ihr zweiter Vorteil. Soldatenpferde sind nicht nur unglaublich schnell, sondern sie werden auch tagelang auf ihre Reiter und eine neue Aufgabe warten. Es sind stolze Tiere, solange sie keinen Grund haben, in Panik zu verfallen.“
Lias Blick schweifte automatisch über den See hinweg, über die Berge. „Und?“, fragte sie. „Gibt es hier etwas, vor dem sie in Panik geraten könnten?“
Keira schüttelte den Kopf. „Soweit ich weiß nicht.“
Enago setzte sich langsam in Bewegung und trat neben die Seherin. Dabei fiel der Blick der Todes Tochter sofort auf den silbernen Schwertgriff an seinem Gürtel. Es war nur ein Griff, ein Griff ohne Klinge – noch. Allmählich spürte sie, wie der Zorn in ihr brodelte, der Hass an seinen Ketten zerrte und vor allem die Trauer versuchte, aus ihrem Verließ zu entkommen. Letztere hatte Lia mittlerweile so gut weggeschlossen, dass es ihr nicht mehr schwerfiel, andere Emotionen in den Vordergrund zu stellen. Angriffslustig fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Griffe ihrer Schwerter. Wie konnte er es nur wagen, sein Schwert zu tragen? Bevor der Hass jedoch wieder die Kontrolle über ihren Verstand erlangte, riss Keira sie aus ihren Gedanken. Die junge Frau hatte sich an das Ufer des Sees begeben und gab nun ihren Gefährten ein Zeichen, ihr zu folgen. Lia strich ihrem Pferd, dankbar, dass es sie den ganzen Weg lang sicher getragen hatte, noch einmal über die Nüstern, bevor sie zu ihr hinüberging. Lia spürte, wie sich die scharfen Kanten der Steine in die Sohlen ihrer Stiefel bohrten und sie hoffte inständig, dass sie sie nicht durchdringen würden.
„Wie schon soeben erwähnt, sind die mächtigen Bäume nur das erste Hindernis, das man überwinden muss.“ In Keiras Stimme lag etwas Ernstes, etwas Magisches. „Unser eigentliches Ziel liegt in der Tiefe, auf dem Grund dieses Sees.“
Als sich die Seherin umdrehte und mit der ausgestreckten Hand hinter sich auf das trübe Wasser zeigte, glaubte Lia zuerst an einen Scherz. Stille umgab sie, als Keira geendet hatte und mit ihr kam die unglaubliche Erkenntnis, dass es die schöne Frau ganz und gar ernst meinte. Schließlich räusperte sich Enago.
„Ich bin kein besonders guter Schwimmer“, gab er zu bedenken. „Aber selbst, wenn ich einer wäre, glaube ich kaum, dass ich weit genug in die Tiefe tauchen, geschweige denn solange die Luft anhalten könnte. Außerdem würde mich das Wasser nach ein paar Metern wieder nach oben drücken.“
Zur Überraschung aller begann Keira zu nicken. „Du hast Recht. Der See ist tief und unser Ziel liegt am Rand des anderen Ufers unter Wasser. Aber“, sie bückte sich und krempelte ihr Kleid ein Stück nach oben, sodass die dunkelblaue Sichel mit dem kleinen Kreis in der Mitte sichtbar wurde, „die Todesrune beschützt mich vor all diesen Sachen. Das Wasser des Sees wurde verzaubert, sodass ich auf seinem Grund wandeln kann wie auf der Erde.“
Lia stieß ein kurzes Lachen aus, worauf sich wieder alle zu ihr umdrehten.
„Verzeih mir, Keira. Aber du solltest bedenken, dass nicht nur du nach dort unten musst, sondern wir ebenfalls. Im Gegensatz zu dir jedoch haben wir keinerlei mystische Runen auf unseren Knöcheln!“
Die Seherin erstickte ihre spitze Bemerkung mit einem Lächeln. „Sie hat Recht, Keira.“
Enago trat ein Stück auf die junge Frau zu. Seine Augen hefteten sich auf ihr nahezu makelloses