Diesmal war es anders: Wer brauchte sie eigentlich? Ihre Mutter war gestorben, ihre beste Freundin auch. Die Ehe war fast 50 Jahre lang vorbildlich gewesen, bevor Großmutter zum Pflegefall geworden war, hätte keiner auch nur die Idee gehabt etwas allein zu unternehmen. In dieser Phase aber hatte Vater gelernt die leere Zeit, in der sie sich um Großmutter kümmerte, mit dem Computer zu füllen und jetzt, wo sie wieder für ihn hätte da sein können, beschäftigte er sich trotzdem mehr mit seinen Programmen als mit ihr. Brauchte er sie überhaupt noch für mehr als Essen und saubere Kleidung? Der Kontakt zu Sylvia und mir war zwar oberflächlich wiederhergestellt, der Riss aber so tief geblieben, dass mehr als eine Anerkennung des gemeinsamen Blutes nicht mehr möglich schien. Vor allem aber hatte sie Andreas verloren. Sie wusste nur, dass er sich vor allem mit Mathematik beschäftigte, sich nicht ablenken lassen wollte und deshalb auch nie anrief oder vorbeikam. Seit er sein Telefon auch noch abgemeldet hatte, war er theoretisch an der Uni erreichbar, allerdings wusste auch die irgendwann abhebende Sekretärin nicht, ob er überhaupt da sei. Brauchte er sie wirklich nicht mehr? Durfte sie ihn überhaupt so alleine lassen? War es ein Fehler, nicht öfter nachzusehen, wie er zurechtkommt? Ein gutes Gefühl hatte sie dabei nie gehabt, aber sie wusste gleichzeitig, dass sie ihre Ehe nicht mit einer neuerlichen Aufteilung ihrer Kräfte belasten durfte.
Vielleicht würde er sich jetzt melden. Dann hätte der Krebs wenigstens diesen Zweck.
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Ich versuchte nicht zu blinzeln, denn dann würde das Wasser in meinen Augen zu Tränen werden. Ich hatte Mutter nicht verziehen, dass sie sich damals bedingungslos hinter Andreas gestellt hatte, obwohl sie wissen musste, dass ich sie nie belogen hatte. Es hatte mich verbittert, wie gleichgültig sie auf meine Absetzung in der alten Firma reagiert hatte. Aber jetzt sah ich in den kantigen, knochigen Zügen, der Karikatur ihres früheren Gesichts, plötzlich auch das Ende der schönen Erinnerungen: Jugend. Hoffnung. Ziele. Erste Erfolge. In der Infusionsampulle bildeten sich die Tropfen in erbarmungsloser Regelmäßigkeit und fielen schließlich herunter als zählten sie die verbleibende Zeit. Draußen der wunderschöne Spätsommer, die Natur noch in ihrer ganzen Kraft und doch ist das nahende Ende zu ahnen , herinnen weiß und desinfiziert, zeitlos und ewig im Neonlicht, die gedämpften Stimmen und Schritte der Betroffenheit ohne einen einzigen Spritzer von Fröhlichkeit. Natürlich Blumen überall, nett gemeint, aber kann man sich am blühenden Leben freuen, wenn es einem selbst zerrinnt?
Sie hatte - so wie es alle von ihr erwartet hatten – die erste Brustoperation ohne Klagen über sich ergehen lassen. Auch als bei der Nachuntersuchung ein zweiter, unabhängiger Krebsherd in derselben Brust gefunden wurde , und sie gleich noch einmal operiert wurde, ließ sich ihr Optimismus nicht von Armen und Beinen, die wenig mehr als Knochen waren, oder von einer Hose wie ohne Unterleib darin beeindrucken.
Es sollte jedoch nicht alles gewesen sein: Bei der Routineuntersuchung des Darms auf Metastasen fand man zwar nicht diese, dafür aber einen weiteren und wieder unabhängigen Krebs – ihren fünften -, schon weit vorangeschritten. Sie durfte vor der Operation nichts mehr essen, mit ständigen Infusionen kämpfte man gegen weiteren Gewichtsverlust, der bereits im lebensgefährlichen Bereich gewesen wäre. Zum ersten Mal fand ich den Kampfgeist in ihrem Blick nicht. Als nicht sehr groß hatte der Arzt die Erfolgswahrscheinlichkeit der Operation eingestuft, es wäre die maximal entfernbare Darmlänge und dazu ihr Zustand. Diesmal ging es ausschließlich um das Überleben, nicht um den angekündigten künstlichen Darmausgang, nicht um die in ihren Augen verwüstete Brust.
Es hatte eigentlich nichts Pathetisches, Endgültiges und Verabschiedendes, wenn sie fragte, was denn mit uns sei, weil ich wieder einmal nicht mehr wusste, was ich noch fragen sollte, wo doch alles bereits jenseits aller unserer Einflussmöglichkeiten lag. Wenn sie es gleichsam absegnete, indem sie sagte, sie freue sich, wenn es uns gut gehe, wenn sie endlich einmal keinen Vergleich mehr mit Andreas zog, nicht einmal eine Bemerkung über ihn machte. Trotzdem war das der Moment, in dem ich wusste, wir beide wussten: Sie war meine Mutter, die einzige Mutter, da geht meine Mutter von mir. Einmal hätte ich ihr Zuversicht geben wollen und konnte doch nur froh sein, dass jetzt wenigstens sie nicht die Kraft hatte mich zu trösten. Nur die Tränen.
Draußen saß Andreas, angeblich kam er jeden Tag, das sollte ich erst später hören, dann aber als Vorwurf und oft, und lernte Mathematik. „Weil er soviel zu tun hat“ hatte sie es mir bei den vorangegangenen Besuchen erklärt und erwartet, dass auch ich nicht daran zweifeln sollte, dass auch ich es als normal sehen sollte, dass er zu ihr ins Krankenhaus kam um zu lernen. Aber diesmal, am letzten Tag vor der Operation, nicht einmal darüber eine Bemerkung.
Er werde nachher schon noch einmal hineinsehen, jetzt könne er nicht, erklärte er, als ich schließlich an ihm vorbeiging, kein Gefühl hatte für die eingefrorene, sterilisierte Zeit. Die Gänge sonnig und freundlich wie in einem Hotel und doch kein Laut. Draußen dann die Tränen ohne Kontrolle. Hätte ich ihr sagen sollen, dass ich sie vermissen würde? Dass ich sie trotzdem – auf meine Art – geliebt hatte? Dass es mir leid tat ihr seit Jahren nichts mehr Nettes gesagt zu haben, dass ich selbst nicht wusste, warum ich es einfach nicht konnte? Hätte ich sie umarmen sollen, den verbliebenen vogelhaften Körper, aus dem ich einst gekommen war und der mir einmal so stark und sicher erschienen war? Ich konnte nicht. Nicht einmal ihre Hand habe ich genommen.
Es wäre Theater gewesen. Oder der endgültige Abschied.
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Am schlimmsten war die Langeweile.
Damals hätte ich mich danach gesehnt. Damals, als es keine Sekunde gab, die nicht belegt war, als ich keinen Gedanken zu Ende denken konnte, bei jedem Gespräch hoffte, dass der andere nicht noch einen Gedanken ausbreitete, wenn ich schon genug gehört hatte. Was hätte ich dafür gegeben einmal einfach keinen Druck zu haben! Damals.
Das Gegenteil jetzt ist noch viel schlimmer. Ich tue nichts. Ich sitze im Büro und versuche beschäftigt zu wirken. Alles, was mich in Wikipedia interessieren könnte, ist gelesen, unzählige Google-Seiten auf neue Musikveröffentlichungen durchsucht, die Aktien unendlich oft angesehen. Trägheit zersetzt mein Gehirn, der Kreislauf taumelt. Ich gehe sinnlos ein paar Stockwerke nach oben um nicht einzuschlafen. Ich warte im Klo bis die Zeit vergeht. Aber ich kann auch nicht jeden Tag jeden befragen, wie es gerade laufe. Ich könnte eine Aktion lostreten, die ich als strategisch wichtig deklarieren könnte, die aber alle nur vom Arbeiten abhalten würde. Damals hatte ich nicht verstanden, wie jemand glauben konnte Dienstreisen nach China oder Japan wären interessant. Jetzt würde ich in Economy hinüberfliegen, wenn ich nur könnte.
Dabei läuft es gut, Ergebnis noch einmal besser als im Vorjahr, der Eigentümer hat es als kleines Wunder bezeichnet, sogar Neider – der einzige echte Beweis für Erfolg - gibt es plötzlich.
Nur – ich tue in Wirklichkeit nichts dafür, noch immer nicht mehr als am Anfang, ein bisschen reden, ein bisschen erklären, ein bisschen Diskussionen schlichten, ein bisschen an Termine erinnern. Wenn ich eine Woche weg bin, habe ich danach wenigstens zwei Tage, an denen ich richtig Gas geben kann, mich ordentlich hineinhänge, nicht auf die Uhr sehe, müde und zufrieden nach Hause gehe, dann fehlt es schon wieder an Nachschub.
Entzugserscheinungen.
Eigentlich müsste ich dem Eigentümer sagen, dass ich gar nicht nötig bin, zumindest überbezahlt. Aber dann? Möchte ich wie ein Kleinkind hören, dass ich ja ohnehin brav gearbeitet habe? Oder will ich, dass er mich ernst nimmt und hinauswirft?
Warum finde ich kein Mittelmaß? Warum konnte es damals nicht weniger oder jetzt mehr sein? Kann so ein Erfolg, der so leicht kommt, für den ich mich nicht schinden und aufopfern muss, überhaupt echt sein?
Nochmals Aktien im Internet, der Tag nimmt kein Ende.
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Gedacht hatten wahrscheinlich auch andere, dass etwas bei Mutter nicht stimmen konnte: Fünfmal Krebs, obwohl in ihrer ganzen Familie kein einziger Fall aufgetreten war. Obwohl sie nie auch nur eine Zigarette geraucht hatte, kaum trank, sich immer gesund ernährt hatte, wenig Fleisch, viel Fisch, Obst und Gemüse, regelmäßig Sport betrieben hatte. Dazu noch die teuren Mineral- und Vitaminpräparate, die die Eltern aus Holland bestellten, seit sie gelesen hatten, was