Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern. Anatol Anders. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anatol Anders
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847698135
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etwas anderes erhofft hatte.

      „Das sind nicht die Worte des Opfers, sondern des Täters“ weigerte er sich zu einem weiteren Baustein ihrer Wirklichkeit zu werden. Als weiteres Argument dafür zu dienen, dass sie alles versucht hatte, dass sie nichts falsch gemacht haben konnte.

      „Sie lieben sich selbst nicht. Sie geben sich in ihrem eigenen Leben keinen Platz.“

      Wahrscheinlich stammte die Idee es zusätzlich mit alternativer Medizin zu probieren von Vater, der Ärzten wie allen Akademikern immer misstraut hatte, dem Selbstbewusstsein von Wunderheilern und selbsternannten Gurus hingegen nie widerstehen konnte. Mutter hatte immer mitgemacht: Bei Magnesium – Zink - Präparaten, bei Selentabletten, bei Vitaminkapseln.

      „Ihr Körper kann nicht ohne Pause wie eine Maschine funktionieren. Das ist sein Hilfeschrei. Wenn Sie ihr Leben nicht grundsätzlich ändern, dann kann ich ihnen nicht helfen“ weigerte er sich sogar ihr eine seiner Rezepturen zu verkaufen.

      „Wenn man etwas gerne tut, dann kann es nicht schlecht sein. Es gibt ja auch positiven Stress. Das sieht er als Außenstehender natürlich nicht“ half Vater ihr den Vorwurf zu verdrängen, sie könnte etwas falsch gemacht haben, und damit ihr Selbstverständnis wieder herzustellen. Schließlich gab es ja für ihn keinen Grund am Status Quo etwas ändern zu wollen.

      Schon zwei Monate später hatte das alles so nie stattgefunden. Sie redeten nicht mehr von Homöopathie, außer wenn ich lange genug nachfragte. Dann erinnerten sie sich so, dass der Homöopath einfach nicht helfen konnte.

      *

      „Kein bestimmtes Thema“ hatte mich die Sekretärin des Eigentümers zu einem Termin gebeten, was mich auch nach fast zwei Jahren in der Firma noch nervös machte. Was könnte es sein? Das Ergebnis war gut, das hatte er selbst gesagt. Lieferprobleme, die er kennen könnte, hatte es nicht gegeben. Hatte irgendjemand intrigiert? Hat er gemerkt, dass ich leicht – und billiger – zu ersetzen wäre? Es war auch nicht das erste Treffen ohne Thema und jedes Mal wollte er dann nur etwas Vertrauliches besprechen oder um meine Meinung fragen. Trotzdem angespannt, während ich die Maske von Begeisterung und Loyalität aufsetze.

      Es ging um eine Tochterfirma in Deutschland, zehnmal so groß wie meine, entstanden durch die Zusammenlegung von drei zugekauften Unternehmen und seit damals defizitär. Jeder Versuch etwas zu verändern war nur auf Ablehnung gestoßen und hatte zu noch mehr Widerstand geführt. Nichts, was hier funktionierte, wurde angenommen. Auch die externen Berater, als neutrale Helfer geholt, ließ man mit falschen Informationen ins Leere laufen. Vier Geschäftsführer hatte er schon gehabt, nichts hatte sich geändert. Hatte ich nicht erzählt, wie ich die schwierigsten Konflikte gelöst hatte? Hatte ich nicht gesagt, ich käme mit allen Nationalitäten zurecht? Beide hatten wir Schwierigkeiten dem Gegenüber in die Augen zu sehen, das war mir schon beim ersten Treffen aufgefallen, jetzt aber blieb sein Blick stark und ich konnte nicht ausweichen. „Sie wollten doch und jetzt können Sie“ weil er mir endlich meinen Wunsch von damals erfüllen konnte, während ich nur einen Ausweg suchte ohne meine Fassade zu zertrümmern. Es war nicht mein Wunsch. Warum soll gerade ich das können? Was passiert, wenn auch ich es nicht schaffe? Ich kämpfte um mein Leuchten in den Augen, um den Optimismus in jedem Satz, um die grenzenlose Bereitschaft ihm zu Diensten zu sein und trotzdem unverbindlich zu bleiben. Wie lange hatte er Zeit? Noch ein Gedanke, noch ein Nebenthema, bis endlich die Sekretärin ihn an den Folgetermin erinnerte und ich zwei Tage Aufschub erschwindelt hatte.

      Wo war mein Selbstvertrauen von damals? Die Begeisterung? Die Voraussetzungen in Ungarn waren doch viel schlechter gewesen, warum hatte ich damals keine Zweifel? Es war ja nicht so, dass ich damals noch nichts Negatives erlebt hätte! Und brauche ich nicht genau so eine Aufgabe, die mich endlich wieder leben lassen würde? Wären da nicht wieder die Reisen nach Japan, China und USA, der Anspruch etwas Wesentliches sagen zu können, die Chance nicht in Belanglosigkeit zu verschwinden, die Gewissheit, dass jeder Erfolg nur das Ergebnis härtester Arbeit sein konnte? Würde nicht die Energie zurückkehren? War das nicht meine Medizin?

      Aber es hatte sich längst entschieden und ich suchte nur mehr den Notausgang.

      Interpretierte ich zu viel in den Eigentümer, als mir seine Augen „Du bist also auch nur einer dieser Ankündigungsweltmeister“ vorwarfen, während ich ihm beschrieb, wie der ideale Geschäftsführer für diese Aufgabe auszusehen hatte, warum ich es also nicht sein konnte, dass ich aber als Berater natürlich zur Verfügung stehe und gerne regelmäßig vor Ort sein würde. Er stimmte schließlich zu, vielleicht nur, weil er es nicht mehr anhören konnte. Mich nicht mehr anhören konnte.

      Was danach geschah, überraschte ihn und vor allem mich selbst. Beim ersten Besuch vor Ort gebe ich dem Team Recht, dass ihnen externe Berater nichts nützen werden. Ich schlage stattdessen vor die produzierte Stückzahl und die Ausbeute wöchentlich für alle sichtbar darzustellen und danach gemeinsam über das Ergebnis zu diskutieren. Sie stimmen zu und das war schon fast mein gesamter Beitrag. Jedes Mal, wenn ich komme, zeigen sie mir, dass sie sich wieder verbessert haben. Natürlich höre ich ihnen zu, lasse mir Ideen schildern und kommentiere, was ich für besonders gut und was ich für schlecht oder auch nur unlogisch halte. Ganz sicher nichts Besonderes. Trotzdem werden sie immer besser. Warum ich nicht bei ihnen Geschäftsführer sein wolle, bedrängten sie zuerst mich, dann den Eigentümer. „Sie brauchen mich doch gar nicht mehr“ zeigte ich ihm, dass sie innerhalb weniger Monate sogar die vermeintlich utopischsten Ziele übertroffen hatten. Er konnte nicht widersprechen, wollte auch nicht. Wie viel Glück kann man eigentlich haben?

      Verdient hatte ich mir das sicher nicht.

      *

      Auf den ersten Blick hätte man kein Leben mehr in ihr vermutet: Die für das maskenhafte Gesicht plötzlich zu großen Augen, die Adern auf den pergamentartigen Handrücken, die leere, welke Haut, wo einmal die Oberarme gewesen waren, der immer gleiche ausgewaschene Pullover über der immer noch großen, aber nicht mehr symmetrischen Brust, der Rücken nicht gerade, die Haare auch nach dem Friseur nicht anders.

      Aber noch immer Kontaktlinsen als Triumph des Willens über die Brille, selbst wenn sie damit noch so schlecht sah. Sie hatte auch diese Operation überstanden, sie hatte erkämpft, dass der künstliche Darmausgang zurückoperiert wurde, auch wenn sie dafür stündlich auf die Toilette musste, auch wenn sie sich vor Bauchkrämpfen krümmte. Wieder überlebt! Sie wusste zwar, dass sie schnell und viel vergaß, aber sie merkte nicht, wie jedes Gespräch zum Irrlauf wurde, weil sie das Thema verlor und mit einem ganz anderen zurückkehrte.

      Außer bei Andreas. Er war das Thema, das die Reste ihres Lebens zusammenhielt, das ihrer Stimme die Willenskraft einer vergangen Zeit verlieh.

      „Was ist das für eine Führungskraft, wenn er nicht zulassen kann, dass seine Mitarbeiter mehr wissen als er selbst“ verflüchtigten sich hier ihre Gedanken nicht. Die klassische Strömungslehre war an ihrem Ende angelangt, es wurde seit ewigen Zeiten nichts mehr publiziert, was von Bedeutung gewesen wäre, es gab kein Gebiet mehr, an dem Andreas forschen konnte. Sollte er einfach untätig und nichtsnutzig herumsitzen wie die anderen? Der einzige Ausweg waren neue mathematische Ansätze und der Professor sollte doch begeistert sein, dass Andreas bereit wäre Mathematik zu studieren. Wer sonst würde sich das antun? Stattdessen schikaniert er ihn, eigentlich ist es sogar Mobbing, er muss genau dann in den Übungen sein, wenn er eigentlich in der Algebravorlesung sitzen sollte. Ihm wurde als einziger ein neuer Computer verweigert, obwohl gerade er ihn für die Lösung der Rechnungen am dringendsten braucht. Er hat gemerkt, dass er ihm schon nach wenigen Semestern überlegen ist und jetzt möchte mit aller Gewalt verhindern, dass Andreas sein Studium fortsetzen oder sogar beenden kann. Sogar seine Kollegen hat er schon gegen ihn aufgehetzt, behauptet, dass sie die Arbeit zusätzlich machen müssten, weil Andreas nicht am Institut, sondern beim Studium sei. Dabei hätten sie doch alle einen Vorteil, wenn einer Mathematik versteht.

      Vieles will von mir gesagt werden, dass sie ja tatsächlich nur zwei Semester vereinbart hatten, dass es nicht eines ganzen Studiums bedarf um die Voraussetzungen für die Berechnungen der Strömungen zu erlangen, dass er keine Prüfungen ablegen müsste. Dass er nicht erwarten könnte sich eine plötzliche Leidenschaft als Beruf bezahlen zu lassen, wenn diese nicht in diesem Umfang