Die erst rückblickend vorhersehbare Geschichte meines Bruders, seiner Mutter und der widerspenstigen Freiheit nach meinem Scheitern. Anatol Anders. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anatol Anders
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847698135
Скачать книгу
nicht aufgefallen sei und was sie zu den Dingen in ihrem Vorraum sagten. Was sonst noch geschah, weiß ich nur von Sylvia. Ich habe noch gesagt, dass es auch mein Elternhaus wäre, als Andreas Sylvia aus seinem hinauswerfen wollte. Zuwenig Verteidigung dafür, dass sie es war, die ihn tagelang gesucht hatte, dafür, dass sie sich kaum vom Telefon entfernt hatte um den täglichen Anruf nicht zu verpassen, dafür, dass sie auch mit mir leiden musste, dafür, dass sie sich jetzt anschreien lassen musste, dass ihr gesagt wurde, sie würde ja nicht einmal zur Familie gehören, dass sie das Niveau eines Bauarbeiters hätte. Zuwenig dafür dass sie sich fünf Stunden lang das alles anhören musste, weil ich nicht die Kraft hatte einen Schlussstrich zu setzen. Weil ich glauben wollte, es wäre weiterhin meine Familie.

      Sylvia hat mir trotzdem verziehen, meiner Mutter aber erst nach Jahren, als sie gegen den Krebs um ihr Leben kämpfte.

      *

      Wieder ein Tag in stumpfem Grau. Die Wände des Nachbargebäudes sahen feucht aus, auch wenn sie es nicht waren, das Tageslicht wie ein Schleier vor dem Fenster. Nichts zu hören. Andreas wusste, dass seine Kollegen in den Büros gleich neben ihm sein mussten, aber was taten sie? Wirklich forschen? Seit Jahren hatte das Institut nichts mehr publiziert, seit Jahrzehnten hatten sich die Vorlesungen nicht mehr geändert. Wahrscheinlich sitzt Hartleb wieder beim Professor. Darauf kam es offenbar an, nicht auf Leistung und Ergebnisse. Sein eigenes Hirn zerfließt in Zeitlupe zu Brei. Der Schatten des Kabels seines Computers kriecht immerhin trotz fehlender Sonne über den Tisch, er legt die Kugelschreiberspitze genau auf die Schattengrenze und schaut zu, wie das Licht der Form der Spitze folgt. Der Kühlschrank schaltet sich ein. Natürlich könnte er das Internet aufrufen, aber die Datenmenge wird aufgezeichnet, wahrscheinlich werden auch die Seiten verfolgt. Auch auf der Straße ist niemand, die Universität liegt am Stadtrand, die Vorlesungen finden woanders statt. Nicht einmal Schritte sind zu hören. Mit der Jause will er nicht vor 12 Uhr beginnen, schließlich soll der Tag wenigstens etwas Struktur bewahren. Ein Glas Wasser. Draußen noch immer grau.

      Natürlich könnte er sich in das Gebiet einlesen, das ihm der neue Professor nahegelegt hat. Aber wozu? Er wusste schon jetzt, dass es dort nichts zu holen gab. An seinem früheren Institut hatte er es mit seinen damaligen Assistenten in Deutschland in alle Richtungen abgegrast und keiner hatte ein Problem damit, dass sie den gleichen Gedanken fünfmal durchkauten, dass sie sich nur selbst zitierten. Und er wäre für alle Zeiten von ihm abhängig. Außerdem hatte er gar nicht das Recht von ihm Arbeit auf einem bestimmten Gebiet zu verlangen. „Sie haben mit meinem Vorgänger vereinbart, dass sie zwei Semester Mathematik machen werden, jetzt sind es bald vier“ hatte er sich irgendwoher diese Information beschafft. Wahrscheinlich von Hartleb. Der hatte vor Maschinenbau zwei Semester Mathematik studiert und hatte es dadurch geschafft als der Mathematikexperte im Institut zu gelten, obwohl sein Wissen schon fast peinlich dünn war. Aber ein paar Formeln, eine Grafik, dazu gescheite Sprüche, alle waren sie beeindruckt. „Besprechen Sie das mal mit Hartleb“ hatte der frühere Professor gesagt und „Ich zeige das noch Hartleb“ sagte auch der neue. Keiner merkte, dass die Logik gar nicht stimmen konnte und daran auch eine Differentialgleichung nichts änderte. Hartleb hasste ihn natürlich, denn er wusste genau, dass Andreas ihn jetzt schon aufdecken konnte. Darum wollte er mit allen Mitteln verhindern, dass Andreas weitermachte.

      „Es fehlt nur ein Semester zum ersten Studienabschnitt“ sollte heißen „Ich bin schon wesentlicher weiter als Hartleb!“, zumindest wollte er noch Zeit gewinnen, aber der Professor hasste ihn. Hatte ihn von Anfang an gehasst. „Du musst ihm Zeit geben, irgendwann erkennt er, schon was er an Dir hat“ hatte Mutter Andreas bestärkt, als ich zu plump gefragt hatte, ob Hartleb auch unfrisiert und so schlecht rasiert , dass einzelne Barthaare am Hals drei Zentimeter lang waren, mit ausgewaschenem Pullover und einer Trainingshose zur Arbeit käme. „Andreas muss sich nicht anbiedern. Er hat genug zu bieten“.

      „Ich bin hier, damit wir Publikationen liefern, nicht Mathematikstudenten“ verweigerte er Andreas jedoch die angemessene Anerkennung.

      „Das Institut kann dankbar sein“ sollte heißen „Ich könnte den anderen bei den Berechnungen helfen“, hätte der Professor nur danach gefragt, aber das tat er nicht. „Ich sage Ihnen schon, wofür das Institut dankbar ist.“

      „Ich habe das Recht auf freie Forschung“, womit er sagen wollte „Ich erfülle alle anderen Pflichten, wenn ich studieren darf und ich werde natürlich publizieren“, aber der Professor wollte ihn nicht verstehen. „Wenn Sie mir so kommen, werden Sie sich wundern, welche Rechte ich habe“.

      Er wollte ihn verfolgen, mobben, kaputt machen, das war offensichtlich, er wollte ihn loswerden um einen seiner früheren Assistenten aus Deutschland nachzuholen. Und er hatte Angst vor ihm, weil er besser in Mathematik war und noch viel besser werden würde als er und der willfährige Hartleb gemeinsam.

      Aber auch, wenn ihn diese Situation quälte: Er wusste, was richtig ist. Er musste weitermachen. Zumindest noch den Studienabschnitt, das könnte ihm niemand nehmen. Dann hätte er als Urkunde in der Hand, was Hartleb nicht hatte. Das Gesetz ist auf seiner Seite. Es steht ihm zu. Er wird ganz sicher nicht nachgeben.

      Endlich schlurfte draußen jemand über den Gang, Kopolka oder Hasching, aus Richtung und Temperament der Schritte geschlossen. Noch immer nicht 12, trotzdem die Jause. Langsam kauen, auch den Tag verdauen. Wenn er die Augen zumachte, hörte er das Blut in beiden Ohren rauschen, auch im schlechten. Der Schatten hatte sich von der Kugelschreiberspitze entfernt. Er wäre gerne wie früher zu einem der beiden hinübergegangen und hätte mit ihnen ein bisschen geredet. Aber wahrscheinlich würden sie dann herumerzählen, dass Andreas ja nichts tun würde und sie noch von der Arbeit abhalten wollte. Wenn sie überhaupt noch mit ihm reden würden, jetzt, wo sie wussten, dass der Professor ihn abschießen wollte. Sie hatten sich von ihm schon abgewandt, als er krank gewesen war. Für sie war er selbst schuld daran, das merkte er an ihren Bemerkungen über Gewichtheben und Bodybuilding, kein bisschen Mitleid oder Rücksicht. Und selbst als er das Eiweiß abgesetzt hatte und sich den Kopf geschoren hatte, was heißen sollte „Schaut her, ich bin richtig krank!“, fragten sie, ob er eine Chemotherapie machen würde und wenn er dann erzählte, dass sein Hormonhaushalt nicht funktionieren würde, reichte es nur mehr zu pubertären Bemerkungen. „Du könntest ja die Mathematikstudentinnen absetzen, wenn das die Hormone durcheinanderbringt“ oder „So werden sie Deine Hormone in Ruhe lassen“.

      Sie lachten ihn aus. Er war ihnen gleichgültig. Sie hassten ihn. Alle.

      *

      Nur dieser neue Kampf ließ mich nicht in tausend Stücke auseinanderfallen. Nur durch ihn konnten mir Verletzungen und Schmerz, Demütigungen und Selbstzweifel, Vergangenheit und Gegenwart nichts anhaben: Ich musste heraus aus diesem Leben. Unwichtig, was noch in der Firma passierte, egal, was man über mich sagte. Nur mehr ich. Mein ganzes Adrenalin für ein neues Leben. Keine Reflexion, keine Zweifel, kein Nachdenken, kein Aufarbeiten. Nur nach vorne. Kein Nachdenken über Konsequenzen. Weg von hier.

      Was konnte ich anbieten? Womit erreicht man einen Eigentümer oder Konzernführer? Was an mir hatte Wert? Nur dieser eine Fokus, aber der so brennend scharf wie nichts in den letzten Jahren, in denen mich das endlose Hamsterrad der unaufhörlichen Probleme fast zermahlen hat, in dem ich mir mein Selbstvertrauen hatte zertrümmern lassen.

      Ja! nahm ich mir den Mut. Ich hatte Innovationen geschaffen, mit denen wir aus Außenseiterpositionen weltweit führend geworden waren. Ich hatte sie nicht unbedingt erfunden, aber bei mir – mir! – waren sie groß geworden. Und ja! Bei mir waren aus verlorenen Haufen tolle Teams geworden. Fertigungen, die zur Schließung anstanden, waren zu Geldmaschinen geworden, solche, die in Ungarn versteckt werden sollten, wurden beim Joint Venture Partner in Japan als Lehrbeispiele diskutiert. Aus kaum beachteten Abteilungsverwaltern hatte ich Führungskräfte gemacht. Und ja! Ich habe mich selbst nicht so wichtig genommen, ich bin loyal zur Sache und zur Firma, keiner der Selbstdarsteller, denen es in erster Linie um sich selbst geht. Wer übernimmt schon die Aufgaben, die sonst jeder verweigert? Wer bleibt in Zeiten wie diesen schon 17 Jahre in einer Firma und wechselt dabei 6mal den Standort? Und ja! Ich habe selbst Patente angemeldet, und ich habe selbst in Fertigungen gearbeitet, ich bin mir für nichts zu schade, Hauptsache es nützt der Firma. Und ja! Ich konnte mit allen Mentalitäten zusammenarbeiten,