Nach jeder Operation das gleiche Ritual: Während die Welt sich um ihn noch von der vielstündigen Narkose immer anders verformte und der Schmerz sein einziger Anhaltspunkt war, erklärten ihm die Chirurgen schon stolz, dass sie diesen oder jenen Knochen aus unzähligen Splittern zusammengesetzt hatten, dass sie mit Titanteilen die Lücken ergänzt hatten, wo nur mehr Knochenbrei abgesaugt werden konnte. Dabei wollte er es nur los sein. Sogar die axiale Bewegungsfähigkeit der Fußschaufel würden sie wieder herstellen können, erklärten sie sich mehr gegenseitig als ihm. Die Seitenbewegung hingegen bedurfte eines mehrstufigen Aufbaus, da dazwischen immer probiert und nachgemessen werden musste, voraussichtlich drei Etappen. Also noch drei Operationen! Er wollte nicht mehr, er konnte nicht mehr, was soll schon so furchtbar sein an einer Prothese?
Er solle doch froh sein, dass er in einem Land lebe, in dem solche Behandlungen nicht nur möglich seien, sondern auch gemacht werden, sagten sie dann. Nichts sei leichter als ein Bein abzuschneiden, das habe man im Krieg gesehen, Narkose, Knochensäge, zugenäht, erledigt. Aber wenn er doch gar nicht wolle? Sie würden ihn daran erinnern, wenn der Alltag wieder begänne. Wenn das Morphium einmal abgesetzt sei.
Dabei war es eben dieser Alltag, den er sich mit solchen Schmerzen erst gar nicht vorzustellen vermochte und es war genau dieses Morphium, das ihn seine Optionen klar abwägen ließ, denn in einem Feuerwerk aus Qualen konnte er nicht denken. Sie dürften doch gar nicht anders entscheiden, als mit allen Mitteln sein Bein zu retten versuchen, beendeten sie die Diskussion schließlich meist, und er könne ihnen und sich helfen, indem er genügend Proteine essen würde, damit die Muskeln so gut wie möglich erhalten blieben und es später Substanz für den Wiederaufbau von Muskeln und Haut gäbe.
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„Für Mutter ist alles erledigt, wenn ich aus dem Spital komme und das Bein noch dran ist“ war ein typisches Telefonat, wenn ihn das Morphium wie aufgezogen plappern ließ.
„Wie es mir dabei geht, ob ich das überhaupt will, das interessiert sie alles gar nicht. Hauptsache erledigt. Hauptsache keinen Krüppel in der Familie.“
Ich versuchte ihn erst gar nicht zu überzeugen, hinterher würde er mir dann nur vorwerfen, ich hätte ihm das Falsche geraten.
„Ich wünsche Dir Du kannst darüber selbst entscheiden, wenn Du wieder einigermaßen klar bist“ ließ ich deshalb alles offen. Und er wiederholte seinen Gedanken immer wieder, bis ich aufhören musste oder seine Schmerzen so stark wurden, dass er neues Morphium brauchte.
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Auch wenn sich alle Linien nach einer Operation bogen und die Lichter bis in sein Hirn leuchteten, die Stimmen hallten und ihn seine eigene Schwere in die Matratze drückte, so waren doch diese Stunden immer seine besten. Die Narkose erstickte nämlich auch die Schmerzen und während sein Hirn langsam klarer wurde, begann jedes Mal die Hoffnung, dass die Schmerzen diesmal vielleicht nicht zurückkämen. Er dachte nur an das Bein, verfolgte den Verlauf geistig – sehen konnte er es aus seiner Liegeposition unter der Decke nicht – Zentimeter für Zentimeter, über das Knie hinaus Richtung Knöchel. Noch kein Schmerz. Noch erträglicher Schmerz. Immerhin noch besser als vor der Operation. Wieder unverändert. Die Flammen leckten seinen Unterschenkel entlang, begannen an der Ferse und eroberten sich die Rückseite, dann die Vorderseite, dann auch das Knie. Anfangs hatte er noch den Tastendruck auf die Schmerzpumpe vermieden, jetzt nicht mehr. Was hilft es schon? Wohlig warm strömte dann Morphium durch seinen Körper, alles entspannte sich, sein Körper erhob sich aus der Matratze. Das Feuer reduziert auf siedendes Wasser und er konnte wieder denken: Machten sie die Operationen überhaupt für ihn oder nur für ihren Berufsstolz? Wie viele Operationen würde es noch geben? Wann würde sein Körper die Narkosen nicht mehr aushalten? Würden die Schmerzen je vergehen? Wie lange würde die Rehabilitation dauern? Die volle Bewegungsfähigkeit würde er wahrscheinlich nicht erreichen, als muss er damit gleich umgehen lernen wie mit einer Prothese. Wenn der Untergrund uneben ist, dann reicht die axiale Bewegung der Schaufel nicht mehr zum Gehen, da wäre eine Prothese mit ihrer Federung und Stoßdämpfer sicher besser. Ein Krüppel wäre er auf jeden Fall.
Wäre es da nicht besser, dass wenigstens jeder gleich sah, dass er es war? Würde er nicht dann endlich auch besser behandelt werden? Was nicht gesehen wurde, existierte offenbar nicht: Seine Hormonstörungen hörten sie sich vielleicht zwar an, aber schon im nächsten Moment verhielten sie sich, als ob es nicht um ihn ginge, als ob alles nur Theorie wäre. Kein Bedauern, kein Mitleid, keine Rücksicht. Keine Anerkennung, wie er damit umging. Schlimmer noch, wenn er einer Frau davon erzählte, dann heuchelten sie vielleicht noch Mitgefühl für dieses oder jenes Symptom, aber spätestens wenn er auf die auf die eingeschränkte Potenz zu sprechen kam, wechselten sie das Thema und er sah ihnen an, dass jede weitere Minute mit ihm für sie nur mehr verloren war. Also sollten sie es lieber gleich sehen, kein Bein! Dann konnten sie einen Bogen um ihn machen, nicht mit ihm reden, wenigstens gäbe es keine Enttäuschung über geheucheltes Interesse. Aber die anderen würden endlich verstehen müssen. Sich anders verhalten müssen.
Was soll er also mit einem nur optisch reparierten Bein?
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Mutter verstand, warum er das Eiweißpräparat nicht nehmen wollte, vielmehr gar nicht nehmen durfte. Schließlich machte ihm sein Hormonhaushalt immer stärker zu schaffen, je länger er seine Testosteron-Medikamente nicht nehmen durfte. Und die Chirurgen hatten keine Ahnung, wie mit seiner Problematik umzugehen wäre und machten sich auch nicht die Mühe, einen Endokrinologen zu fragen, sondern zwangen ihm lieber standardmäßig Eiweiß auf.
Jedenfalls nahm sie jeden Tag eine Flasche mit nach Hause, später, als seine Dosis verdoppelt wurde, alle beide und versuchte sie all denen aufzudrängen, die es in ihren Augen natürlich viel dringender brauchten. Wie ihr Vater, verglich sie stolz, der am letzten Tag im Krankenhaus jedes Mal dem Arzt die Lade gezeigt hatte, wo er all die Tabletten gesammelt hatte, die er hätte einnehmen sollen. Andreas wusste es besser als die Ärzte, selbst wenn sein Zustand so schlecht war, es war einfach unglaublich, über welche Dinge er wie genau Bescheid wusste.
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„Jeden Tag in der Früh denke ich mir nur: Hoffentlich können sie Dein Bein retten!“ Mutter ließ die ganze moderne Technik von Prothesen nicht gelten, schließlich sei ein eigenes Bein immer noch ein eigens Bein und auch mit einer Gehbehinderung sei man noch lange kein Krüppel. Wenn es nur dranbliebe, Schmerzen hin oder her. Ihr tut schließlich auch jeden Tag etwas weh, die Zähne müsse man schon zusammenbeißen. Glaubt er denn wirklich mit einer Prothese sei alles gelöst? Er hat ja keine Ahnung, wie ihr Vater mit seinem fehlenden Bein gekämpft hat! Sein ganzes Leben wäre anders verlaufen, wenn ihn nicht jeder als Krüppel behandelt hätte. Sie hätten ihn nicht ständig hintergangen und ausgenützt. Sie hätten nicht nur den Körper gesehen, sondern auch den Menschen, der darin gefangen war.
Wollte er wirklich so ein Schicksal?
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Vater hatte es einfach satt. Wieso musste er wieder alles ertragen? Hatte Andreas ihn gefragt, als er wieder mit den Motorrädern anfing? Hatte er ihm nicht gesagt, er solle keine Harley nehmen, weil sich die bei Geschwindigkeit kaum kontrollieren ließen? Bei den Entscheidungen soll er nie dabei sein, aber hinterher, wenn der Schaden da ist, da kann er dann kommen.
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„Wir haben es geschafft“ stand der Chirurg mit einem Röntgenbild vor ihm „das Puzzle ist zusammengesetzt. Und das Beste überhaupt: Die Beweglichkeit wird über 80% liegen!“ Wollte er einen Vortrag vorbereiten? Die Schmerzen loderten wie am ersten Tag. Nicht einmal eine konkrete Stelle war auszumachen, das Zentrum