Hommage an mich. Dr. Holger Wyrwa. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dr. Holger Wyrwa
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214637
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Der Fraß hier bringt mich noch um. Beim China-Mann etwas bestellen. Gut das es Liefer-Service gibt.

      *

      Es gibt Menschen, flüsterte mein Vater mir an meinem sechsten Geburtstag ins Ohr, die leben ihr Leben ab, wie man einen Anzug abträgt. Während er mich sanft an sich drückte und mir dabei über den Kopf strich, war mein Ohr noch vom Weinen erhitzt und pochte gleichzeitig vor Wut. Nach einer kurzen, aber eindrucksvollen Pause fügte er hinzu: Es sind die meisten.

      Sofort versiegten meine Tränen, und ich umschlang, noch immer zitternd, die Beine meines Vaters. Zu jung, um einen solchen Gedanken in seiner ganzen Tiefe zu erfassen, erschloss sich mir dennoch der Sinn seiner Worte. Sie berührten mich augenblicklich, so wie Musik einen berührt, welche den Körper, sobald von den Klängen angesprochen, diesen in eine unaussprechliche Schwingung versetzt und eine Erkenntnis ermöglicht, für die ein Verstand - und sei er noch so ausgebildet - nicht vorbereitet sein kann.

      Bereits in diesem jungen Alter von sechs Jahren verfügte ich über eine ganz außergewöhnliche Wahrnehmungsfähigkeit und Intelligenz. Fast spielerisch war ich in der Lage, jedwede Zusammenhänge zu erkennen und durchschaute ohne langes Nachdenken das lächerliche Spiel der Erwachsenen, die einem Kind Interesse an ihm vorheuchelten, aber sich in Wirklichkeit alleine schon durch dessen bloße Anwesenheit belästigt fühlten.

      In dieser Welt, in der wir alle gezwungen sind zu leben, ist es nicht leicht, ein herausragender Mensch zu sein. Weder mit sechs noch mit 62 Jahren.

      Ein solches Leben macht zu jedem Zeitpunkt einsam, wenn es sich abseits der konventionellen Dramen normaler Existenzen abspielt.

      Niemand kann sich das vorstellen. Denn dafür müsste man so sein wie ich.

      Als mein Vater mir an meinen sechsten Geburtstag jenen denkwürdigen Satz anvertraute, befand ich mich in der größten Krise meines Lebens.

      Dieser Tag, der für mich von herausragender Bedeutung werden sollte, endete auf tragische Weise. Ich erkannte, als er zur Neige ging, dass es Menschen gab, für die ich nichts weiter als nur ein unbedeutender Nebenschauplatz in ihrem Leben war.

      In damals noch völliger Unkenntnis von der Verlogenheit und Niederträchtigkeit meiner Verwandten, hatte ich ein Kasperletheater für meine Geburtstagsgäste vorbereitet. Wochenlang entwarf ich Dialogszenen, verwarf sie, konzipierte sie neu, wechselte die Hauptdarsteller aus. Bis ich endlich, mit meinen Bemühungen zufrieden, auf den großen Tag zu warten begann. Und er kam.

      Nur eben anders, als ich ihn mir vorgestellt hatte.

      Die Bühne war aufgebaut. Die Vorpremiere am Vortag mit meinen Eltern war fantastisch gelaufen. Sie hatten begeistert geklatscht, ihre Gesichter strahlten voller Stolz. Sie verlangten nach einer Zugabe, die ich ihnen nach einem kurzen Zögern gewährte. In dem Bewusstsein, etwas Großartiges geleistet zu haben, ging ich zu Bett.

      Ich konnte kaum schlafen. Ich träumte von Dialogen zwischen Kasperle, dem Polizeiwachtmeister, der Großmutter und dem bösen Krokodil.

      Wie ein Boxer, der es kaum abwarten kann, in den Ring zu steigen, musste meine Mutter mich an meinem großen Tag zurückhalten, um nicht sofort jeden einzelnen meiner Tanten und Onkel und meine drei Großeltern, sobald sie durch die Wohnungstür traten, in Beschlag zu nehmen.

      Ich musste mich gedulden. Es fiel mir schwer. Die Unruhe stieg in mir an, wie ein immer lauter werdender Staubsauger.

      Aber dann. Dann war es endlich soweit.

      Mein Herz pochte, mein Körper vibrierte und meine Hände zitterten wie die meines Onkels Gottlieb, die sich erst dann zu beruhigen begannen, wenn mein Vater ihm eine Flasche Bier reichte, die er mit nur wenigen kräftigen Zügen leerte.

      Sie waren alle gekommen.

      Tante Walpurga, Tante Josephine, Onkel Gottlieb und Onkel Alexander mit dem breiten Grinsen. Meine Großmütter Trude und Elisabeth, die sich nicht leiden konnten und nie miteinander sprachen und mein Großvater Edwin, väterlicherseits.

      Doch statt meinen Geburtstag zu feiern, begrüßten sie mich nur kurz, überreichten mir hastig Geschenke, machten nichtssagende Bemerkungen über meine Größe und wie gesund ich aussehen würde. Dann setzten sie sich um den übervollen Kaffeetisch. Sie bedienten sich selbst, schoben sich Kuchenstücke, in die weit aufgerissenen Mäuler, wo der billige Zahnersatz nicht kaschieren konnte, dass sie alle knapp bei Kasse waren. Onkel Gottlieb forderte mit Blicken meinen Vater auf, ihm etwas anderes als Kaffee zu servieren.

      Vergeblich versuchte ich, meine Verwandten auf mich aufmerksam zu machen. Ich sprach sie einzeln an, zog mir die Kasperlepuppe über die rechte Hand und setzte sie davon in Kenntnis, dass ich gleich für sie und nur für sie ein Stück aufzuführen im Begriff war, von denen noch Generationen sprechen würden.

      Aber Tante Trude hörte nicht zu. Tante Elisabeth nicht, auch nicht meine Onkel und meine Großeltern. Außer zu fressen und zu saufen schien sie nichts zu interessieren. Sie strichen mir nur gleichgültig über den Kopf, ohne mich dabei anzusehen. Sie redeten einfach weiter über ihre belanglosen, leeren Themen und fingerten gierig nach dem nächsten Kuchenstück.

      Ich versuchte es ein weiteres Mal, mit dem gleichen Erfolg.

      Wie sehr ich sie alle in diesem Moment zu hassen begann. Dieser Hass auf meine Verwandtschaft – ich gestehe es ein - besteht noch heute. Zufrieden lehne ich mich manchmal in meinen von den Bielefelder Werkstätten gefertigten über 2000.00 Euro teuren Sessel zurück und genieße das mich alles erfüllende Gefühl, wenn ich in den Todesanzeigen der Zeitungen vom Ableben eines meiner Onkel und Tanten erfahre.

      Wären sie heute hier versammelt, allesamt würde ich sie durch die Straßen meiner Heimatstadt prügeln.

      Meine damals so empfundene Ohmacht war grenzenlos. Ein Schlüsselereignis meines Lebens, eingebrannt in mein Gehirn wie eine nicht mehr zu entfernende Tätowierung.

      Dabei wollte ich doch nichts anderes als nur ein wenig Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, die mir insbesondere an diesem Tag zustand.

      Ich begann zu weinen, ich tobte. Und plötzlich waren alle still, sahen zu mir herüber und warteten darauf, was jetzt wohl als Nächstes geschehen würde. Natürlich hofften Sie, dass meine Mutter mich zur Ordnung rufen würde.

      Doch ich erahnte ihre Gedanken, lief zu meiner Mutter, klammerte mich mit dem rechten Arm um ihr linkes Bein, während ich mit der Kasperlepuppe an meiner linken Hand auf das Kasperletheater zeigte.

      Sie begriff sofort, was ich damit anzudeuten versuchte, und mit ihrer klaren Stimme, die zwar leise war, aber die dennoch jeder vernahm, kündigte sie meinen Verwandten an, dass jetzt augenblicklich eine herausragende Darbietung folgen würde, die extra von mir für meine Gäste einstudiert worden war.

      Alle wandten sich mir zu.

      Für einen Moment spürte ich das Bedürfnis, ihnen meine Verachtung entgegenzuschleudern und ihnen mitzuteilen, dass es nun zu spät dafür sei und ich sie nicht für wert erachten würde, meiner Darbietung zu lauschen. Aber ich besiegte diesen Impuls – wenn auch nur mit äußerster Mühe. Denn es war mein Tag. Nur meiner. Sie waren schließlich nur meinetwegen gekommen. Jedenfalls dachte ich das damals.

      Ich verneigte mich anstandshalber vor meinem Publikum und begann mit der Vorführung.

      Ich spielte das Stück meines Lebens. Alle Dialoge waren mir präsent. Ich machte nicht den geringsten Fehler. Der Wechsel von einer Figur zur anderen verlief wie von Zauberhand. Ich war großartig.

      Sie hörten mir alle zu, und schon war ich bereit, ihnen ihr Fehlverhalten zu verzeihen, als ich die ersten Anzeichen von Langeweile in ihren Augen wahrzunehmen begann. Immer öfter blickten sie zur großen Wanduhr, die uns Großvater Olaf kurz vor seinem Tod geschenkt hatte.

      Ich gebe unumwunden zu, dass ich damals die für meine Darbietung vorgesehene Zeit von zehn Minuten ein wenig überzogen hatte. Aber es bereitete mir soviel Vergnügen zu spielen, dass ich unaufgefordert eine Zugabe nach der anderen gab. Ich improvisierte