Hazel liebte ihren Beruf, das spürte Valentin. Er hätte ihr noch stundenlang so zugehört, und sie hätte gewiss noch lange mit Begeisterung weitererzählen können, doch als sie auf ihre Armbanduhr sah, erschrak sie.
„Wie schnell die Zeit vergeht, schon kurz vor zwei! Wir müssen jetzt gehen, sonst komme ich zu spät und die Kunden stehen vor verschlossener Tür!“
Valentin rief Marcello und er kam zum Kassieren. Beim Bezahlen gab es ein Problem mit seiner Kreditkarte. Valentin musste bar bezahlen. Er hatte gerade noch genügend Kleingeld. Sie überzogen etwas die Mittagspause, und er fuhr Hazel wieder zum Friseursalon. Als sie ausstieg, gab sie ihm einen Kuss auf die Wange und bedankte sich für das Essen. Hastig stieg sie aus dem Wagen. Eine Kundin und ein Lehrling standen schon vor der Tür und warteten. Ihr dezentes Parfüm stieg Valentin in die Nase. Einen Augenblick lang sah er ihr nach: Sie trug graue Sneakers, eine graue Hose, ein graues Top und darüber ein weißes Strickshirt, das etwas weiter getragen wurde und im Wind flatterte. Sie war sportlich gekleidet, was ihren Typ unterstrich. Ihre schwarze Lacktasche, die um ihre Schulter hing, trug in großen, goldenen Buchstaben den Schriftzug Harrods. Sie drehte sich noch einmal um und lächelte ihm zu, bevor sie aufschloss und hinter der Schwenktür verschwand. Eine Zeitlang sah er noch in ihre Richtung. Er konnte sie hinter dem großen Schaufenster sehen, bevor sie aus seinem Blickwinkel verschwand.
Sein nächster Weg führte ihn zur Sparkasse. Natürlich fand er wieder keinen Parkplatz in der verdammten Stadt und stellte sich in die zweite Reihe. Mir doch egal, wenn es wieder ein Knöllchen gibt, murmelte er laut vor sich hin. Aufgebracht erkundigte er sich am Schalter wegen der nicht funktionierenden Kreditkarte. Dort erklärte man ihm ruhig und sachlich, dass seine Kreditkarte vor kurzem gesperrt worden sei.
„Gesperrt?“, fragte er den Banker fassungslos.
„Ja, gesperrt.“
„Wie soll ich das verstehen?“
Valentin war entsetzt und wütend – auf den Banker, auf seinen Vater, auf jeden, der ihm über den Weg lief. Das konnte sein Dad nicht mit ihm machen, das ging eindeutig zu weit! Zornig ging er zu seinen Freunden und ließ diese auf seine Tankkarte tanken. Dann ließ er sich das Benzingeld in bar ausbezahlen, damit er wenigstens etwas bei Kasse war.
Auf der Marienburg
Zuhause drohte die Situation zu eskalieren. Valentin fuhr zur Marienburg, um sich abzulenken. Das tat er immer, wenn er allein sein wollte. Dort hatte er einen wunderbaren Blick über die Stadt.
Er parkte und lief den steilen Weg hinauf, als ihm eine Reisegruppe aus Japan entgegenkam. Alle trugen die gleichen roten Schildmützen. Bei jeder Gelegenheit stellten sie sich in Gruppen zusammen und schossen Bilder; dabei versuchten sie das Foto mit Gesten zu verbessern und zogen Grimassen. Valentin lief amüsiert weiter und erreichte den Burgwall. Von hier aus hatte er einen weiten Blick über den Main.
Sein Blick fiel auf das Käppele – der volkstümliche Name für eine Wallfahrtskirche, die nach Plänen Balthasar Neumanns errichtet worden war. Es war eine der wenigen Kirchen, die den Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg ohne größere Schäden überstanden hatte. Mit ihren drei Zwiebelhäubchen stand sie wie verwunschen im Hang, eingebettet zwischen Bäumen und Weinbergen. Zu ihr führte ein Treppenaufgang, der als Kreuzweg errichtet worden war. Unzählige Male war Valentin als Kind diesen Weg mit seinen Eltern gegangen.
Er lief auf der Mauer entlang und sah eine Schulklasse mit Kindern, die an einer Führung teilnahmen. Der Burgführer versuchte ihnen Burg und Stadtgeschichten näher zu bringen, erzählte vom Alltag auf einer Fürstenburg, von Überfällen auf den Bischof, von Rittern und Gräfinnen. Manche hörten wissbegierig zu, andere liefen in Grüppchen hinterher und redeten oder lachten.
Valentin war gern Schüler gewesen, war gern in die Grundschule und später ins Gymnasium gegangen. Als Student dagegen war er ein Versager. Nun war auch noch dieser Kreislaufzusammenbruch dazugekommen. Zu viel Alkohol und die Kifferei machten ihm zu schaffen. Er hatte es übertrieben, maßlos.
Sein Blick schweifte über die Stadt, über die vielen Autos und das Treiben auf den Straßen. Als Kind war er diesen Weg oft mit dem Fahrrad gefahren. Einmal fuhr er mit ein paar Kameraden um die Wette. Valentin trug wie immer keine Schuhe, und sie fuhren durch hohes Schilf. Dabei schnitt er sich die Füße und Beine so stark auf, dass es an manchen Stellen genäht werden musste. Er blutete und trug Narben davon. Wochenlang konnte er nur kalt duschen. Er gewöhnte sich so daran, dass er bis heute nur noch kalt duschte. Nur mit kaltem Wasser fühlte er sich frisch und sauber. Seitdem trug er den Spitznamen „Kaltduscher“.
Seine Mutter war damals sehr besorgt um ihn gewesen: das viele Blut an seinen Beinen und Füßen, die Blutspritzer am Fahrrad. Doch es sah schlimmer aus, als es war. Seine Mum sah für ihr Alter noch sehr gut aus. Sie arbeitete hart dafür. Regelmäßig ging sie ins Sportstudio, besuchte mindestens einmal in der Woche das Schwimmbad und spielte Tennis. Außerdem achtete sie auf ihre Ernährung. Sie kochte täglich selbst für die Familie und verwendete nur frische Lebensmittel. Keine Creme, die versprach, jünger und straffer auszusehen, war ihr zu teuer. Sie trichterte ihm von klein auf ein, dass es das Wichtigste im Leben sei, glücklich zu sein und viel Spaß im Leben zu haben und dass dies nur ginge, wenn man gesund sei und viel Geld zur Verfügung habe – am besten reichlich von beidem.
Mum war das beste Beispiel: Sie und Dad ergänzten sich: Paul verdiente das Geld, und Mum verstand es, es unter die Leute zu bringen. Ja, das konnte sie wirklich gut. Sie kümmerte sich um Haus, Garten und die unzähligen Anlässe, die es zu feiern gab. Und natürlich um Valentins Erziehung. Bei Empfängen war sie perfekt: Sie dekorierte den Tisch passend zur Jahreszeit, wählte Getränke und Speisen aus, kochte erlesen und wählte zu jedem Anlass die passende Musik. Bei der Verabschiedung der Gäste genoss sie zusehends die Komplimente über ihr gelungenes Event und darüber, was für eine hervorragende Gastgeberin sie sei. Bei der Verabschiedung standen die Eltern gewöhnlich Arm in Arm in der Empfangshalle und nahmen stolz den Dank der Gäste entgegen: „Das war wieder ein Abend! Alles war wieder perfekt organisiert, und das Essen und der Wein ausgezeichnet, so gut aufeinander abgestimmt, es war wieder so schön bei Euch!“ Mum lobte dann Dad, und der wiederum gab das Lob zurück an seine Frau.
Valentin hatte sich nur in dieses Bild der perfekten, glücklichen Familie einzufügen, dann stand ihm alles offen, was das Finanzielle anbetraf. Nun jedoch war er an einem Punkt angekommen, wo sein Vater ihm die Kreditkarte gesperrt hatte. Er spürte eine Abneigung gegen sich selbst.
Sein Blick schweifte noch einmal über die Stadt. Er sah die vielen Schiffe, den Main, wie er sich durch die Stadt schlängelte, die Brücken, die das Land miteinander verbanden, die Weinberge am Hang, den alte Kran am Ufer. Erinnerungen an seine Kindheit stiegen in ihm empor: Sommer, die sie am Main verbrachten, badeten, Fußball spielten. Die Mauer war halbhoch mit Efeu bewachsen, es kühlte ab. Valentin wandte sich ab und ging in das Fürstenbaumuseum.
Der Fürstensaal beeindruckte ihn immer wieder, auch die fürstbischöfliche Schatz und Paramentenkammer. Dann sah er sich die Modelle der Festung von 1525 und nach dem Krieg an. Obwohl er schon oft hier gewesen war, beeindruckten sie ihn immer wieder aufs Neue. Bei dem Bombenangriff auf Würzburg war die Festung stark beschädigt und ab 1950 wieder aufgebaut worden.
Es war schon nach fünf, als er die Festung verließ, und es dämmerte. Über der Stadt gingen vereinzelt Lichter an. Die Marienburg, der Kiliansdom, das Käppele und das Rathaus wurden angestrahlt, verbreiteten festlichen Glanz. Die Menschen gingen jetzt nach Hause, freuten sich auf ihren Feierabend. Nur Valentin wollte nicht nach Hause, zumindest jetzt nicht. Er genoss den Ausblick von der Burg aus, die vielen Lichter. Die Straßenlaternen schalteten sich ein, alle zur gleichen Zeit.
Ihn fröstelte, und er zog seine Jeansjacke an. Sein Mund fühlte sich trocken an. Er wühlte in seinen Taschen und fand einen Zimtkaugummi in der Hosentasche, der ziemlich verdrückt war. Die wenigen Besucher, die noch da waren, wandten sich dem Ausgang zu. Der Geschmack des Kaugummis im Mund hielt nicht lange an, und er spuckte ihn in den Mülleimer. Er lief die Burg entlang, zum Parkplatz hinunter, wo er vor Stunden sein Auto geparkt