Eringus - Hungersnot im Kinzigtal. Rainer Seuring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rainer Seuring
Издательство: Bookwire
Серия: Eringus
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752924848
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den Zwergengroßkönig.

      Doch nicht nur aus Buodingen hat sich eine zusätzliche Begleitung eingefunden. Auch von anderen Adelshöfen und Großbauern haben sich weitere Menschen hinzugesellt. Vom Einen kam ein kleiner Wagen, der vom einzigen Pferd des Nachbarn gezogen wird. So kamen auch die anderen Gruppenführer zu zusätzlichen Gruppen. Jeweils ein Pferde- oder Ochsenkarren nebst 15 Menschen, die speziell für ihre Herrschaft außerhalb des getroffenen Abkommens handeln sollen. Auch Jagdfalken stehen auf der Wunschliste. Letztlich erhöhte sich somit die Zahl der Menschen auf 370.

      Niemand hat dagegen gesprochen, dass die Anführer der Gruppen allesamt Zwerge sind. Es war einleuchtend, dass diejenigen, die das Kommando über die Kampftruppen haben auch die Führung über die Übrigen übernehmen. Zudem tragen diese Zwerge auch den Vorrat an Kupfer, Silber und Gold, mit dem der Handel beglichen werden soll. So viel Edelmetall hat ein ordentliches Gewicht und kein Mensch, geschweige denn ein Halbling, vermag diese Last auf Dauer mit sich zu führen.

      224 Halblinge haben sich dazu gesellt, auch wenn sie den Zug wahrscheinlich nicht die ganze Zeit begleiten werden. Sobald sie die vermutliche Grenze der Wolke erreicht haben, wollen sie ausschwärmen und nach den, ihrer Meinung nach, unverzichtbaren Insekten und Käfern suchen. Da sie nicht auf Handel angewiesen sind, sondern von Mutter Natur nehmen können, was gesund und fortpflanzungsfähig ist, brauchen sie keine Konkurrenz zu fürchten. Sie werden die Ersten sein, die heimkehren.

      Am Vortag hat sich Anschild noch einmal mit seinem Schwiegervater, König Sigurd, und Eringus, dem Drachen, besprochen. Was müsste man erwarten? Womit sollte man sich dagegen rüsten? Welche Wege soll man nehmen und vieles mehr wird erörtert. Das alles hat sich der junge Großkönig gut eingeprägt und gibt davon nun in seiner Rede bekannt.

      „Ich grüße euch, ihr Menschen, Halblinge und Zwerge!“, ruft er laut und verschafft sich so Gehör. Er steht auf dem inzwischen ständig vorhandenen Podest. In der letzten Zeit haben sich die Ansprachen vermehrt und ein wiederholtes Auf- und wieder Abbauen wurde zu lästig.

      Aufmerksamkeit heischend steht er da oben, für alle gut sichtbar. Er ist zwar, wie alle Zwerge, nur knapp über drei Fuß groß, aber seine Gestalt ist beeindruckend. Breite Schultern und Oberarme, wie manch einer keine Oberschenkel hat. Dazwischen ein Nacken, der jedem Stier zur Ehre gereicht hätte. Die muskulöse Brust wird durch die schmale Taille deutlich betont. Die hellblonden Haare wallen wie eine Mähne um sein Gesicht. Der Bart ist scharf am Kieferknochen abgesetzt und zieht sich nur fingerbreit vor zum Kinn. In Vereinigung mit dem Oberlippenbart ergibt sich dann ein Kinnbart, der sich bis auf die Brust hinab wellt.

      „Ich danke für eure Aufmerksamkeit.“, fährt er fort, als es ganz ruhig geworden ist. Einem verträumten Schwätzer half ein Rippenstoß, den Mund zu halten. „Wir werden in Bälde auf eine lange und weite Reise gehen. Wir werden Wege beschreiten, die niemand zuvor von uns gegangen ist. Selbst die Wenigen von uns, die den Wettergau noch zu kennen glauben, werden ihn nicht wieder erkennen. Wir betreten also für uns vollkommenes Neuland. Es ist daher angeraten, sich auf den großen Straßen zu halten. Doch nicht nur deswegen. Wir brauchen nur vor das Tor zu gehen, um zu sehen warum. Wir werden mit ungeahnten Schneemassen zu kämpfen haben. Und auch wenn unseren Wagen die Kufen untergeschnallt sind, werden die Zugochsen mit ihrem großen Gewicht im Schnee versinken. Wir werden also wohl weite Strecken für einen tragenden Untergrund sorgen müssen. Deswegen gilt folgende, gruppenunabhängige Reihenfolge im Zug. Zu Vorderst gehen die Zwerge in Reihen, die breit genug sind, dass für die Wagen ein Weg gebahnt wird. Danach folgen die Menschen in ebensolchen breiten Reihen. Jeder wird Schneeschuhe an den Füßen haben, um eine möglichst breite Fläche nieder zu treten. Die Reihen werden versetzt laufen, dass auch wirklich der ganze Schnee niedergepresst wird. Ich hoffe es reicht aus, auf diese Weise den Untergrund so fest zu stampfen, dass die Ochsen nicht mehr einsinken werden. Zudem wird die erste Reihe mit Stöcken ausgerüstet, die sie vor jedem zweiten oder dritten Schritt in den Boden rammen, wenn wir über offenes Gelände laufen müssen. Im Wald erkennt man den Weg. Wo kein Baum steht, muss der Weg verlaufen. Aber auf einer zugeschneiten Wiese sieht keiner, ob nicht kurz vor ihm ein Graben oder ein kleiner zugefrorener Bach überdeckt ist. Auf den Wagen befinden sich neben den Käfigen für das Kleinvieh auch alle nur erdenklichen Sachen, von denen wir glauben, dass sie benötigt werden könnten. Die führenden Reihen werden nach angemessener Zeit wechseln, sodass die Schwerstarbeit auf alle verteilt wird. Erst danach kommen die großen Ochsenwagen und am Ende die Halblinge. Die abgelöste Führungsreihe der Zwerge übernimmt dann nach den Halben den Abschluss und die Rückendeckung.“

      Anschild macht eine kurze Pause, bevor er fortfährt. „Wir müssen damit rechnen, dass wir sehr weit laufen müssen. Eringus befürchtet sogar, dass wir bis ans Meer laufen müssen.“

      „Was ist ein Meer?“, ruft es aus dem Hintergrund. Dafür gibt es wieder einmal einen Rempler mit dem Ellenbogen.

      Anschild hat das gesehen. „Lasst den Mann, das habe ich auch fragen müssen. Wir alle haben schließlich noch nie eine so weite Reise unternommen und von einem Meer hat man vielleicht schon einmal in einer Geschichte gehört, wenn überhaupt. Stell dir vor, du stehst an einem Seeufer. Aber außer hinter dir, siehst du sonst kein Land. Dann stehst du vor einem Meer. Das ist eine so große Wasserfläche, dass man ihr Ende nicht sehen kann. Unser weitgereister Eringus kennt das, denn er war schon dort und hat sogar die Länder dahinter gesehen.“

      „Dahinter soll es doch garnichts mehr geben, hab ich gehört.“, ruft wieder eine Stimme aus dem Hintergrund, durch die Offenheit und Ehrlichkeit des Großkönigs bestärkt.

      „Es ist nicht gesagt, dass nicht zwischen hier und dem Ende der Welt auch noch Inseln zu finden sind.“, erklärt Anschild.

      Eringus grinst innerlich und sagt nichts dazu. Er weiß es besser. Doch das hier und jetzt erklären zu wollen, hieße ein neues Weltbild schaffen. Das führt zu weit und niemand wird den Berg verlassen.

      „Meinen ursprünglichen Plan, in kleinen Gruppen ungesehen die Heimreise zu bewältigen, habe ich aufgegeben. Nehme ich Buodingen als Maßstab, so mag es durchaus vorkommen, dass wir auf vielleicht noch größere Anwesen stoßen und dann stehen im besten Fall fünfzehn Zwerge und zwanzig Menschen urplötzlich einer Macht von an die zweihundert Gegnern gegenüber. Ich will, dass alle wohlbehalten und unversehrt nach Hause zu Weib und Kind kommen. Wir werden daher den gesamten Tross so lange als möglich zusammen behalten und am Ende mit maximal fünf großen Gruppen die Rückkehr beginnen. Die Obersten dieser Gruppen sind die Zwillinge Genefe und Jeras Eisengießer, Hrosvit Silberfaden, Dankwart, Gernhelm und ich.“

      Die Genannten haben sich am Fuße des Podests versammelt und Anschild weist bei der Namensnennung auf den jeweiligen Zwerg oder die Zwergin.

      „Auf diese Weise haben wir in jeder großen Gruppe fünfzig Zwerge und sechzig Menschen. Ich denke, damit sollte auch eine größere Übermacht besiegt werden können. Die nachgemeldeten Gruppen nicht mitgezählt.

      Doch wir sind nicht auf Kampf aus. Wir wollen keine Ländereien erobern, wir wollen unseren Lieben daheim Nahrung bringen. Darum werden wir auf dem Rückweg so gut als möglich die Siedlungen vermeiden und davor die Straßen verlassen und erst danach wieder auf sie zurückkehren.

      Auf uns warten entbehrungsreiche Wochen. Gerade zu Beginn unserer Wanderung werden wir nur wenig Gelegenheit haben, zu rasten. Bei dieser Kälte kann man sich nicht im Freien zur Ruhe betten. Es wäre der letzte Schlaf. Jeder bekommt ein kleines Päckchen mit Nahrungsmitteln. Teilt es mit Bedacht ein. Solange wir noch im ehemaligen Bereich der magischen Wolke sind, ist an Jagd nicht zu denken. Wild wird es nicht geben. Alles Andere, vielleicht essbare, ist vom Schnee überdeckt und tief gefroren. Ihr werdet an die Grenzen eurer Leistungsfähigkeit gelangen und darüber hinaus gehen müssen.

      Sobald wir die vermutliche Grenze der Wolke erreicht haben, werden wir unser weiteres Vorgehen besprechen. Darüber jetzt nachzudenken, wäre voreilig. Wir wissen nicht, was uns erwartet und wo wir uns befinden werden. Am Ende kann man dort nicht einmal unsere Sprache sprechen. Dann werden wir höchstwahrscheinlich den Zug überhaupt