Waren ihre Emotionen an diesem Tag übergekocht? Hatten sie ihre aufgestaute Wut an Ari ausgelassen? Naomi blieb stehen. Es war bereits halb fünf. Jetzt war sie sicher, dass etwas passiert sein musste. Eine halbe Stunde Verspätung war definitiv zu viel für einen Zufall. Aber was sollte sie tun. Aris Telefon lag auf dem Bett, es war heute Morgen nicht aufgeladen gewesen und deshalb nutzlos. Naomi hatte keine Möglichkeit Ari zu erreichen.
Also musste sie zu ihr. Befand sie sich noch in der Schule? Es war ihr einziger Anhaltspunkt, also schrieb sie schnell eine Nachricht mit der dringenden Bitte sich zu melden, falls Ari wider Erwarten noch kommen sollte und hinterlegte sie in Aris Posteingang. Dann packte sie sich einen dicken Mantel und eine zu große Mütze. Jetzt war keine Zeit Umwege zu nehmen, also durfte sie nicht erkannt werden.
Sie verließ die Wohnung und saß kurze Zeit später in einem Zug zur Maranaka School, Aris Primärschule, den sie eine halbe Stunde später erreichte. Es war ein imposanter Bau, mit einem wunderschön gestalteten Vorhof, aber Naomi hatte im Moment keinen Blick für so etwas. Sie hastete die Treppen hinauf und betrat das Gebäude, durch das Hauptportal. Die meisten Gebäude der Last Hope standen immer offen, solange die Verwaltung sich sicher sein konnte, dass nichts Wichtiges zerstört werden konnte. Die Halle, in der sie sich jetzt befand, war menschenleer, auch die Lehrer mussten inzwischen gegangen sein, auf dem Weg zur Zeremonie oder nach Hause. Naomi füllte ihre Lungen und schrie.
„Ari. Ari, wo bist du?“ Sie lauschte, horchte, ob sie die schwache Stimme Aris vernehmen würde. Aber nein, sie hörte nichts. Also lief sie weiter, rief immer wieder nach ihrer Schwester. Sie betrat jeden offenen Raum, jedes Bad, das sie fand, aber Ari war hier nicht. Schließlich gestand sie sich ein, dass es keinen Sinn mehr hatte weiter zu suchen, also verließ die die Schule wieder. Sie fragte bei einigen der Passanten, ob sie ein junges, schwarzhaariges Mädchen gesehen hätten, aber sie verneinten. Auch an der naheliegenden Bahnstation hatte Naomi kein Glück. Nein, hier war Ari nicht. Aber wo konnte sie noch suchen. An die Schule angrenzend lag ein großer Waldpark, vielleicht war Ari dort.
Der Park war weitläufig, mit mehreren kleinen Wäldern und unzähligen ineinander verschlungen Wegen. Bald schon musste sie aufgeben, da sie wusste, dass sie so keine Chance hatte Ari zu finden. War Ari vielleicht inzwischen zu Hause und hatte einfach ihre Nachricht nicht gelesen?
Ein winziger Funke Hoffnung keimte in ihr auf, und so schnell sie konnte rannte sie zur Bahn und fuhr nach Hause, wiederum die Mütze tief ins Gesicht gezogen, um nicht erkannt zu werden. Bald darauf stand sie mit pochendem Herzen vor der Tür. Sie lauschte. Nein, sie hörte nichts, aber das hieß noch gar nichts. Sie entsperrte die Tür und ganz langsam zog sie sie auf. „Ari?“, fragte sie behutsam. Es kam keine Antwort. Der Funke Hoffnung flackerte und erlosch.
Er hinterließ eine triefende Leere. Es war eine Leere, die alles zu verschlingen drohte, was Naomi ausmachte. Sie hatte dieses Gefühl seit acht Jahren nicht mehr erlebt, nicht mehr seid ihr Vater und Schwester genommen wurden. Es war inzwischen kurz vor 21:00 Uhr. 4 Stunden. 4 Stunden war Ari jetzt zu spät. Auf dem Küchentisch lagen noch die Utensilien, mit denen sie heute ihre eigene, kleine Zeremonie abhalten wollten. Fotos von ihrem Vater und ihrer Schwester, Räucherstäbchen und Wasserschalen.
Jetzt war es zu spät. Was sollte sie jetzt machen, allein kam sie nicht mehr weiter. Also rief sie die einzige Stelle an, von der sie sich Hilfe erhoffte. „Sicherheitsdienst. Innere Sicherheit. Wie können wir helfen?“ Die innere Sicherheit war eine Abteilung des Sicherheitsdienstes und kümmerte sich um alle Arten der Kriminalität an Bord. „Hallo. Naomi Orinama hier. Meine Schwester wird vermisst, Ari Orinama. Sie hatte bis 16 Uhr Schule und ist bis jetzt noch nicht daheim.“
„Miss Orinama“, die Stimme war kühler als zuvor, „ich kann Ihnen nicht helfen. Ihre Schwester ist wahrscheinlich bei einer Freundin. Sie wird bald zurücksein und …“ „Nein! Hören Sie. Ich kenne meine Schwester. Sie würde niemals wegbleiben. Sie kann nirgendwo hin.“, Naomi war immer schneller geworden, aufgeregter „Bitte. Helfen Sie mir, sie zu finden, ich habe schon überall nach ihr gesucht, ihr muss was passiert …“ „Ich kann Ihnen nicht helfen. Vermisstenmeldung ab 48 Stunden Abwesenheit.“ „Aber, …“. Aufgelegt.
Naomi fluchte und schluchzte gleichzeitig. Hätte sie einen anderen Namen getragen, hätte der Beamte ihr bestimmt geholfen. Was jetzt? Ihr waren die Optionen ausgegangen. Aber konnte sie 48 Stunden warten, um eine Vermisstenmeldung aufzugeben? Ihr kam eine verzweifelte Idee. Sie öffnete ConNow, dass meist genutzte soziale Netzwerk des Schiffes. Sie eröffnete einen neuen, anonymen, Post und begann zu schreiben. „Hallo. Meine Schwester ist seit heute verschwunden. Ich weiß nicht, wo sie sein könnte und mache mir große Sorgen. Hat sie jemand gesehen? Bitte helft mir.“ Kritisch betrachtete sie die wenigen Sätze, die sie zustande bekommen hatte, aber sie war noch nie eine große Wortkünstlerin gewesen. Sie fügte ein Bild von Ari an und veröffentlichte den Post auf der allgemeinen Seite, sodass ihn möglich viele sehen konnten. Hoffentlich würde niemand erkennen, um wen es ging, das würde die Antwortchancen drastisch senken.
Sie wartete und starrte fordernd den Bildschirm an, aber innerhalb von 10 Minuten erfolgte keine Reaktion. Naomi sprang vom Stuhl auf, sie konnte nicht sitzen bleiben. Wieder fing sie an unruhig durch die Wohnung zu streifen. Sie erinnerte sich, was ihre Klassenkameraden ihr bereits angetan hatten. Kopf ins Klo, über Nacht irgendwo festgebunden, verprügelt in einem Hof liegen. Dann projizierte sie ihre Erfahrungen auf Ari. Die zarte, sanftmütige und zerbrechliche Ari. Es schauderte ihr. Konnte Ari solche Torturen überstehen? Wer würde ihrer süßen Kleinen so etwas antun? So vergingen die Stunden quälend langsam für Naomi. 22:00 Uhr kam und ging, gegen 23:00 Uhr erhielt sie eine Antwort auf ihren Post, der ihr Herz kurz höher springen ließ, bevor die Enttäuschung sie übermannte. „Ist das nicht Ari Orinama aus der 4-E? – Gabriel Hank (5-B)“
Mitternacht kam und ging und ihr Post sammelte immer mehr Down-Votes, bis er aus der Allgemeinansicht verschwand. Gegen 2 Uhr nachts bemerkte sie das erste Mal ihre Müdigkeit. Es war ein anstrengender Tag gewesen und das Adrenalin kam langsam nicht mehr dagegen an. Daraufhin ging sie ins Bad und hielt den Kopf eine Minute lang unter die eiskalte Dusche. Das machte sie wieder munter und so wartete sie weiter. Aber auch bis 3 Uhr passierte nichts Erwähnenswertes, bis sie schließlich um kurz nach 4 ein Ton aus ihren Gedanken riss.
Es war ihr Telefon und mit einem Schrei der Erleichterung stürzte sie sich darauf. Dass musste Ari sein, wer sonst sollte sie anrufen. Mit zitternden Fingern nahm sie den Anruf an. „Ari. Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Wo bist …“ „Miss Orinama“, Naomis Herz rutschte in Richtung ihrer Füße. Das war nicht Ari. Das war die tiefe, durchdringende Stimme eines Mannes. „hier ist Doktor Sam Korjing vom St. Kames Hospital.“ Naomis grub ihre Nägel in ihre Hand „Ihre Schwester liegt bei uns auf der Intensivstation, wenn Sie vorbeikommen wollen. Hier sind Beamte der inneren Sicherheit, die mit Ihnen sprechen wollen.“ „Was ist mit ihr?“, fragte sie vorsichtig. „Sie wurde übel zugerichtet im naheliegenden Chandler Park gefunden. Wir operieren sie gerade. Kommen Sie bitte schnell.“ Und er legte auf. Übel zugerichtet, was sollte das bedeuten? Im Chandler Park gefunden, dass ergab keinen Sinn. Der lag kilometerweit von der Maranaka School entfernt. Aber egal. Sie hatten Ari gefunden und das war, was zählte. Naomi sprintete zur Tür, immer noch in ihr Trauerkleid gehüllt.
20 Minuten später betrat sie das St. Kames Hospital, es war ein großer Betonklotz, der offensichtlich von einem der weniger einfallsreichen Architekten der Last Hope erdacht worden war. Der Empfang war beinah menschenleer, bis auf den Rezeptionisten und eine junge Frau, die ebenfalls hinter dem Tresen stand. Als Naomi auf sie zuging fragte sie: „Miss Orinama.“ „Ja, das bin ich. Wo ist meine Schwester.“ Naomi betrachtete das Gesicht der Frau eingehend, suchte nach Hinweisen über den Zustand ihrer Kleinen. Die Frau war wahrscheinlich 3 bis