Sie bewohnte zwei sehr hübsche Zimmer – das Eckzimmer mit dem daranstoßenden Gemach – und ihre Wirtin hatte sich dadurch allerdings sehr einschränken müssen, bekam aber auch von ihr fast die ganze Miete für die Etage gezahlt, Kostgeld exklusive, und ließ sich da gern eine kleine Unbequemlichkeit gefallen – was der Kalkulator selber nicht gerade von sich sagen konnte.
Er war von Herzen eigentlich ein ganz guter Mensch, den ganzen Tag aber, ja, das ganze Jahr draußen von seinen Vorgesetzten hin- und hergestoßen und über die Achseln angesehen und trotzdem gezwungen, nur stets devot mit ihnen zu verkehren. Dafür tat er sich in seinen eigenen vier Wänden etwas Gutes, schüttelte die devoten Bücklinge ab, hielt den Rücken steif und spielte den Haustyrannen en miniature – etwas, was wir im Leben leider nur zu häufig finden. Er zeigte das aber nicht etwa durch ein raues Betragen gegen seine Frau – das kleine, gemütliche Weibchen würde ihm auch nie Gelegenheit dazu geboten haben – nein, er betrachtete sich nur einfach als die gesetzgebende Gewalt im hause, um die sich eben alles drehen musste, als den Ernährer der Familie, der die einzige Arbeit dafür tat, wie er meinte. In der Tat arbeitete seine Frau aber in einer Stunde mehr, als er den ganzen Tag in seinem Büro, wo sich die verschiedenen Beamten oft selbst im Wege saßen und mit Gähnen den Schluss der Geschäftsstunden abwarteten, der sie aus ihrer ‚Marterkammer‘, wie sie scherzhafterweise das Büro nannten, erlöste.
Mit der täglichen Kost war es bis dahin sehr knapp gegangen, denn seine paar hundert Taler Gehalt wollten eingeteilt werden, wenn sie überhaupt ausreichen sollten, und Fleisch zum Beispiel kam früher nur Sonntags auf den Tisch. Jetzt dagegen hatte sich das geändert, denn ihre Untermieterin, die auch reichlich dafür bezahlte, verlangte, wenn auch einfache, doch nahrhafte Kost, besonders abends, wenn sie aus dem Theater kam, etwas Warmes in Fleischspeisen, und wem das daneben zugute kam, war allein der Kalkulator. Er hatte seit dieser Zeit jeden Mittag sein Stück Fleisch, denn die junge Sängerin aß entsetzlich wenig, und außerdem kargte er auch noch seiner Frau, auf den Zuschuss fußend, einen kleinen Teil des bis jetzt gezahlten Wirtschaftsgeldes ab, was er, wie er sagte, notwendig brauchte, um seinen durch die Büroluft angegriffenen Körper mit einem Glase Lagerbier zu stärken.
Die kleine Frau ertrug das auch mit Engelsgeduld, sie hatte ihre Kinder, für die sie sorgte und lebte, und was sie selber betraf, so war sie ja von Jugend auf an Entbehrungen gewöhnt gewesen und verlangte für sich nicht mehr als das Allernotwendigste – und wie wenig war das!
Auch in der sonst nicht zu engen Wohnung sah sie sich beschränkt. Der Gatte musste ein Arbeitszimmer – in dem er nie etwas arbeitete, was er nicht an jedem anderen Tische hätte ebenso gut verrichten können – und ein besonderes Schlafzimmer haben, während sich die Frau gezwungen sah, mit ihren vier Kindern in einem anderen Zimmer zu schlafen, denn eine „gute Stube“ durfte auch natürlich hier nicht fehlen. Wenn sie einmal Besuch bekamen, was das ganze Jahr kaum zweimal vorfiel, war es doch nötig, einen ‚anständigen‘ Platz zu besitzen, in den man die Gäste führen konnte, und deshalb allein atmeten Mutter und Kinder das ganze Jahr lang die ungesunde Stickluft des engen Raumes ein, in dem ihre sämtlichen Betten standen.
Die gute Stube hatte nun jetzt für Constanze Blendheim den Vorteil (da sie neben ihrer Stube lag und mit dieser die ganze Front des Hauses nach dem Brink zu bildete), dass sie dort hinein Herrenbesuch führen konnte, wenn sie jemand aufsuchte, und die Frau Obrichter freute sich dann jedes Mal, dass wieder einmal jemand ihre ‚guten‘ Möbel zu sehen bekam. Sie hatte die kleine Schwäche allerdings, stolz darauf zu sein, denn durch sie waren sie ja, als Teil ihrer Ausstattung, mit in die Wirtschaft gekommen und bis dahin immer mit der größten Achtung behandelt worden.
In dieser „guten Stube“ der Familie empfing auch Constanze Blendheim die Besuche ihres Bräutigams, und die Frau Kalkulator ging dann ab und zu und wirtschaftete auf eine so liebenswürdige und fürsorgliche Weise im Hause herum und sah dabei in ihrem einfachen Kattunröckchen immer so sauber aus, dass es eine ordentliche Freude war, ihr nur zuzusehen. Wie manche lange Nacht sie freilich allein am Waschtrog stand, um sich und ihre Kinder alle so sauber zu halten, wusste niemand, denn sie sprach nie ein Wort darüber, und selbst ihr Gatte wunderte sich manchmal über die stets reine Wäsche. Da er jedoch kein Geld dazu herzugeben brauchte und auch nicht dadurch belästigt wurde, interessierte es ihn zu wenig, um viel darüber nachzudenken oder gar die Ursache zu erfragen; aber er befand sich natürlich wohl dabei.
Constanze hatte den ganzen Nachmittag studiert. Sie war heute Abend nicht beschäftigt und bereitete sich auf eine größere Rolle vor, aber sie horchte doch immer dazwischen nach der Tür, denn Bernhard hatte ihr versprochen, jedenfalls heut gegen Abend noch einmal vorzukommen und ihr Antwort zu sagen, welches Resultat seine mit dem Direktor gepflogene Unterhaltung gehabt. Es war ein böses Zeichen, dass er schon so lange auf sich warten ließ; denn wäre die Antwort zustimmend ausgefallen, so würde er sicherlich keinen Moment versäumt haben, es ihr mitzuteilen – und er kam nicht.
Kalkulator Obrichter war aus seinem Büro schon seit fünf Minuten nach Fünf zurück, und das Regierungsgebäude – in dem er dem Namen nach gearbeitet, in Wirklichkeit seine Stunden nur absaß – lag wenigstens zehn Minuten Weges von seiner Wohnung entfernt – aber lieber Gott, die Uhren gingen so ungleich in der Stadt, und niemand konnte verlangen, dass ein Beamter je den Glockenschlag im Büro abgewartet hätte!
Er trank eben seinen Kaffee und hatte seine Privatzuckerdose neben sich stehen, denn die übrige Familie gab sich keinem solchen Luxus hin, weil der Kalkulator behauptete, er zahle dem Staate schon genug direkte Steuern (und darin hatte er Recht), als dass er sich auch noch zur Extravaganz auf die indirekten stürzen sollte. Da klopfte jemand an. „Herein!“ sagte Herr Obrichter, und Hauptmann von Dürrbeck stand in der Tür.
„Ich störe doch nicht?“
„Bitte, Herr Hauptmann“, sagte der Kalkulator, sich mit einem blaubaumwollenen Taschentuch den Mund wischend, und fuhr von seinem Stuhl auf, denn er achtete das Offizierskorps hoch. „Bitte, belieben Sie näher zu treten!“
„Fräulein Blendheim ist zuhause, wie ich höre?“
„Sie singt wie eine Nachtigall“, sagte der Kalkulator. „Vielleicht eine Tasse Kaffee gefällig?“
„Danke aufrichtig“, sagte der Hauptmann abwehrend – er war einer solchen Einladung einmal gefolgt und ging, als kein besonderer Freund von Zichorien, nicht wieder in die Falle. „Ich möchte das Fräulein nur einen Augenblick sprechen.“
Der Kalkulator lächelte, denn er wusste, was solch ein Augenblick bedeutete. „Wollen Sie gefälligst sich dort hinüber bemühen – Sie kennen ja schon den Weg.“
„Wollen wir nicht noch einen Augenblick warten, bis Fräulein Blendheim geendet hat? Sie singt gar so lieb, und ich möchte sie nicht gern stören.“
Der Beamte schob ihm sehr artig einen Stuhl hin, den Dürrbeck dankend annahm, und jener, in dem Bewusstsein, dass er selber eine sehr angenehme Rente verlieren würde, wenn die junge Dame zum Altar trat, sagte, nach der Richtung deutend, aus der die Töne drangen: „Es würde in der Tat ein schwerer Verlust für das hiesige Theater sein, wenn die junge Dame es quittierte. Hoffentlich steht der Zeitpunkt doch nicht so nahe bevor...“
„Es ist noch unbestimmt, lieber Herr“, erwiderte Dürrbeck ausweichend, denn er wollte dem Gesang der Geliebten lauschen und dachte auch nicht daran, Constanzes Hauswirt zum Vertrauten zu machen.
Der Kalkulator kam noch einmal auf den Kaffee zurück. „Wäre Ihnen denn nicht wenigstens ein halbes Tässchen gefällig? Es ist genug da“, setzte er hinzu, den Deckel der Kanne lüftend. „Meine