Eigentlich lief an diesem ersten Tag in der Schule alles recht gut. Das blieb auch so. Zwar stürmte auf Martin täglich noch viel Neues ein, sodass er gar nicht zum Nachdenken kam, jedoch Schwierigkeiten mit dem Lehrstoff hatte er kaum. Die geliehenen Bücher nützten ihm viel, und wenn notwendig, so sprangen auch einmal Helmut oder daheim Ursula helfend ein.
Dennoch gab es für ihn ein immer deutlicher werdendes Problem. Der Anschluss an seinen Klassenverband fiel ihm schwer. Zwar hatte er sich auch früher nie sonderlich um Freundschaften bemüht, die ergaben sich meistens von selbst und hielten dann gut, jedoch hier bahnte sich nichts dergleichen an. Er blieb der Fremde aus dem Reich.
Als Martin einmal mit Helmut darüber sprach, ermunterte der ihn, mehr aus sich herauszugehen. Helmut schien ihn also zu verstehen, aber wie stellte sich dieser denn so etwas vor? Er konnte doch nicht einfach vor die anderen treten und sie bitten, ihm gegenüber nicht mehr so gleichgültig zu sein.
Und doch ging Martin diesen Weg, nicht freiwillig, sondern von einem, der stärker als er war geführt.
Im Deutschunterricht stand Schillers „Glocke“ auf dem Programm. Der Lehrerin, die nichts vom Auswendiglernen langer Gedichte hielt, kam es darauf an, dass möglichst viele ihrer Schüler zu einem Thema des darin beschriebenen Geschehens aus heutiger Sicht, vielleicht sogar auf eigenen Erlebnissen aufbauend, Stellung nahmen.
Das Handwerk und Familienleben, immer im Vergleich zwischen damals und jetzt, boten sich leicht dazu an. Darüber war es in den Stunden davor zu interessanten Gesprächen gekommen. Nur zu der von dem Dichter so packend beschriebenen Feuersbrunst fehlte es an einem passenden Parallelbeispiel, denn der Dachstuhlbrand am Kriegsanfang nahm sich dagegen recht harmlos aus. Vielleicht konnte hier der neue Schüler aus dem Reich helfend einspringen? Der hatte bei einem Luftangriff bestimmt schon mal ein größeres Schadenfeuer gesehen. Die Lehrerin fragte ihn danach.
Martin trat aus seiner Bank. Er saß als einziger in der Klasse allein, da sich nach seinem Dazukommen die Schülerzahl nicht mehr durch zwei teilen ließ. Was sollte er tun? Bisher wusste sicher nur Helmut vom Tod seiner Eltern. Den anderen und auch der Lehrerin hatte er nichts davon gesagt. Die Lehrerin hätte ihm sonst bestimmt auch nicht dieses Thema gestellt. Ihm fiel die Aufgabe schwer, jedoch sie sollten seinen Bericht über das Höllenfeuer aus Menschenhand hören, an dessen Ende es nicht wie im Gedicht tröstend hieß: „Und sieh, ihm fehlt kein teures Haupt.“
Seine Mitschüler merkten auf. Was der Neue vortrug, war nicht nur interessant, es war mehr, so als berichte er über sich selbst.
Da standen Nacht für Nacht am Rande einer Millionenstadt Oberschüler, nur ein Jahr älter als er und sie, in luftwaffenblauer Uniform zusammen mit Soldaten an Flakgeschützen und Peilgeräten auf Wacht. In einer Julinacht kam dann der Feind. Funkmessgeräte hatten ihn schon an der Küste erspäht, als er über See einfliegend auf ablenkenden Umwegen schließlich Kurs auf Martins Heimat nahm.
Die Geschütze reckten, gelenkt von den durch die Dunkelheit, ja selbst durch Wolken schauenden „Himmelsaugen“, ihre Mündungen zu den anfliegenden Maschinen hinauf, und die Scheinwerfer, noch ohne Licht, nahmen die gleiche Richtung an. Von nahen Flugplätzen stiegen Abfangjäger auf, auch diese vom Boden aus bis auf Sichtweite an die feindlichen Verbände herangeführt. Wie schon oft, verlief auch diesmal alles nach Plan.
Jedoch dann fielen auf rätselhafte Weise die Peilgeräte aus und erweckten den Eindruck, als wären die angreifenden Bomber plötzlich überall. Gleich danach erblickte man über der Stadt einen mehrfarbigen Schein. Pfadfinderflugzeuge hatten Zielmarkierungen gesetzt. Dann erfolgte Detonation auf Detonation. Nach einem ausgeklügelten Programm fielen Luftminen, Brand- und Sprengbomben auf das vorher gekennzeichnete Gebiet.
Endlich schoss die Flak, jedoch noch immer ungeführt. Scheinwerfer suchten den Himmel ab, und Jäger verfolgten Flugzeugverbände, die sich oft in nichts auflösten.
Noch immer war die deutsche Abwehr blind. Aus den gegnerischen Flugzeugen abgeworfene Metallpapierstreifen, Lamettafäden gleich, die langsam zur Erde schwebten, hatten das erstmalig in diesem Krieg vollbracht. Fast schutzlos bot die Stadt sich dem Feind.
Schwere Bomben deckten Häuser ab oder rissen am Boden Kabel- und Rohrnetze entzwei. Brandbomben zündeten tausendfach, und ganze Straßenzüge gingen in Flammen auf, sodass man noch am nächsten Tag die Sonne nicht sah.
Aber damit war es nicht genug. Zwei Nächte danach brach im erneuten Bombenhagel ein Feuersturm los. Der durch die Hitze aufsteigende Wind hatte gebieterisch von allen Seiten Luft herangesaugt und dadurch die Einzelbrände zu einem riesigen, von orkanartigen Stürmen gepeitschten Feuermeer vereint. Daraus gab es kein Entrinnen.
Die Menschen in den Luftschutzkellern wagten sich nicht in die über ihnen tobende Hölle hinauf. Wenn doch, so liefen sie in den sicheren Tod. Die meisten blieben in ihren Verstecken und hörten, wie draußen alles zerbarst. Es war dunkel um sie und wurde unerträglich heiß. Trotzdem griff eine seltsame Müdigkeit nach ihnen, bevor sie durch Sauerstoffmangel bewusstlos wurden. Nur wenige erwachten wieder aus diesem Schlaf und erblickten oft erst nach Tagen rettendes Licht. Fast alle, die man fand, als endlich die Glut in den Trümmern erlosch, waren gestorben.
Der von dem Dichter beschriebene Brand war durch ein Naturgeschehen entstanden. Dieses Feuer jedoch, welches so viele Menschen tötete, wie Insterburg Einwohner zählte, wurde durch menschlichen Wahn entfacht.
Der fremde Junge hatte seine Aufgabe erfüllt, aber er setzte sich nicht. Sein Gesicht war fahl. Ohne einen Grund anzugeben, verließ er schleppenden Ganges den Raum, als trüge er an einer schweren Last. Hinter ihm schloss sich fast lautlos die Tür. Helmut stand auf und ergänzte kurz, dass Martin bei einem der letzten Angriffe vor wenigen Wochen seine Eltern verloren hatte.
Die Lehrerin erschrak und forderte ihn auf, Martin wieder hereinzuholen, jedoch im gleichen Augenblick korrigierte sie sich und ging selbst hinaus. Sie fand den Jungen auf einer Fensterbank sitzend. Behutsam sprach sie ihn an und entschuldigte sich. Martin blieb still, aber er sah in das zu ihm hinuntergebeugte Gesicht und bemerkte die Anteilnahme und Sorge darin. Er war mit seinem Kummer nicht mehr allein, das gab ihm Kraft.
Als seine Lehrerin nach einer Weile vorschlug, doch zusammen mit ihr zu den anderen zu gehen, stand er willig auf. In der Klasse wurde es still, und Helmut bat ihn zu sich. Der Platz neben diesem war plötzlich leer. Martin zögerte noch, dann setzte er sich. Von dieser Deutschstunde an gehörte er fest zu seinem neuen Klassenverband.
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Die Zeit verging. Fast drei Wochen war Martin nun schon bei Grafs. In sein Leben kehrte allmählich der Alltag ein.
Morgens wurde er von Ursula geweckt. Wenn beide ins Erdgeschoss hinunterkamen, hatte Tante Käte bereits den Frühstückstisch gedeckt. Manchmal war auch der Opa schon aufgestanden und aß dann mit ihnen.
Danach gingen die Kinder noch im Dunkeln zum Bus, der auch bei hohem Neuschnee oder strengem Frost recht pünktlich fuhr. Nur Raureif auf den Oberleitungen machte ihm Schwierigkeiten. Die Stromabnehmer gaben dann keinen guten Kontakt und zogen lange Funken hinter sich her.
Martin lernte durch seine Begleiterin schnell alle Sprindter Fahrschüler kennen. Am Alten Markt stiegen sie aus und gingen dann in getrennten Gruppen zu den verschiedenen Lehranstalten.
Wenn der Stundenplan günstig war, trafen sich beide Kinder mittags wieder im Bus. Sonst wartete Tante Käte mit dem Essen auf den letzten.
Nach dem Mittag, wenn es draußen noch hell war, fuhren sie meistens ein Weilchen Ski. Nicht weit, nur soviel, dass man nach der Schul- und Zimmerluft mal richtig zum Durchatmen kam. Der Junge hatte vorher noch in seinem bei den Schularbeiten von ihnen gemeinsam benutzten Zimmer den Ofen angeheizt. So war es bei ihrer Rückkehr schon warm.
Nach