Anschließend wurde Martins Zimmer aufgeräumt. Dann ging das Mädchen zum Bettenmachen in das angrenzende Elternschlafzimmer, in dem es seit Vaters Soldatenzeit neben seiner Mutter schlief.
Bei so viel häuslichem Fleiß, der von Ursula und nun sicher auch von ihm erwartet wurde, gewann Martin den Eindruck, dass Tante Käte sehr streng sein müsse. Jedoch Ursula, die er danach befragte, nahm sie in Schutz. Erst Vaters Einberufung, die für Mutter manche zusätzliche Arbeit und viele Sorgen um ihn nach sich zog, hätte sie so streng werden lassen. Beschämt durch die Antwort, versuchte der Junge dem Gespräch eine Wendung zu geben und fragte nach der Herkunft des Eisenbahnwagens neben den Äpfeln. Ursula berichtete ihm von ihres Vaters Geschenk. Martin war über eine so interessante Spielmöglichkeit sichtlich erfreut. Dann probierten beide von Tante Kätes Äpfeln.
Gleich danach sprangen sie wieder die Treppe hinab. Ursula hielt warnend einen Finger auf ihren Mund, weil der Opa auf der Couch ein wenig schlief. In der Küche saß Tante Käte vor einem an ihren Schwager gerichteten Brief. Die Nachmittagssonne schien auf den Tisch. An der Wand dahinter war auf einem, wie eine Schiebetür zur Seite rollbaren Fensterladen eine Russlandkarte angebracht. Der Frontverlauf war darauf mit buntköpfigen Nadeln markiert. Im Krieg, draußen in der Wirklichkeit, würde jetzt sicher Ursulas Vater an einer dieser markierten Stellen stehen.
Die Skier wurden aus der Sommerküche geholt. Nachdem die Bindungen des Paares, das dem Vater des Mädchens gehörte, Martins Schuhen angepasst waren, stand dieser unsicher darauf. Vorsichtig fuhr er hinter Ursula von Hof. Für ihn war es nicht leicht, die Straße zu überqueren, denn die von den Obusreifen glattgewalzte Schneedecke bot kaum einen Halt. Dahinter lagen dann jedoch ein zugewehter Graben und ein verschneites Feld. Darüber hinwegzugleiten machte schon Spaß, besonders dann, wenn der Vordermann die Spuren zog und gegen alle Anfängerdummheiten Rat und Hilfe bot.
Bald hatten die Kinder den zum Eichwalder Forst führenden Trakisweg erreicht. Die Endhaltestelle des Busses mit dem unter alten Linden stehenden Wartehäuschen lag am Anfang davon. Hinter der Haltestelle war der Weg tief verschneit. Nur wenige Schlittenspuren markierten ihn. Den Bürgersteig hatten die Anwohner jedoch geräumt
Balzats und Lobinskis wohnten hier in den letzten Doppelhäusern am Ortsausgang. Deren Kinder, nach denen Ursula fragte, waren mit ihren Schlitten im Badewäldchen auf dem Rodelberg. Martins Führerin zögerte einen Augenblick. Der Weg dorthin war nicht weit, aber der Abhang für ihn wohl noch zu steil. Auch schien ihr die dort herumtollende Dorfjugend einem Anfänger gegenüber nicht rücksichtsvoll genug zu sein. So zogen sie allein zum Ortsausgang weiter.
Sie überquerten einen kleinen Bach, der so langsam floss, dass er eine geschlossene, von Luftblasen durchsetzte Eisdecke trug. Rechts neben ihrem Weg lag ein Erlenbruch, in dem der Bach entsprang. Dahinter stiegen sie eine sanfte Anhöhe hinauf. Von hier aus sah man weit in das winterliche Land.
Im Südwesten, wo jetzt die Sonne niedrig am Himmel stand, kreuzte in der Ferne die Bahnlinie nach Tilsit das zu ihren Füßen liegende, breite Tal und den Fluss. Durch die fünf Bogen der Insterbrücke leuchtete gleißendes Licht. Jenseits des Tales, welches der Fluss in einer von Eis und Schnee bedeckten, kaum wahrnehmbaren Vertiefung in gewundenem Lauf durchzog, lag ca. drei Kilometer von ihnen entfernt das kleine Dörfchen Insterblick. Nach Osten gesehen, wo hinter dem Horizont die Inster entsprang, schien die Welt endlos zu sein. In diese weiße Ebene hinein, hinab ins Tal, führte ihr von alten Kopfweiden beidseitig umsäumter Weg bis hin zum Wald.
An die Anhöhe angelehnt, befand sich am Flussbett ein einsames Gehöft. Ursula berichtete Martin von dem darin wohnenden, betagten Ehepaar, den beiden Urbschats und dessen an der Front stehenden Sohn. Sie schilderte die drei Menschen ihrem Begleiter in einer sehr warmen Art und fügte erklärend hinzu: „Immer ist Frieden in deren Haus, ich gehe gern zu ihnen hin.“ Martin erfuhr dabei, dass Herr Urbschat nicht nur Bauer, sondern auch Fischer sei. Als Vater noch zu Hause war, hätte dort unten während der Sommermonate Grafs Paddelboot an einer Boje im Fluss gelegen. Dann wies das Mädchen noch auf das große Nest auf dem Scheunendach hin. In jedem Sommer würde darin ein Storchenpaar mehrere Junge aufziehen.
Nach dieser Schilderung gab sich Ursula auf dem abschüssigen Weg einen Schwung und glitt ins Instertal hinab. Martin blieb nichts anderes übrig, als es ihr gleichzutun. Auch er kam in der vorgezeichneten Spur unten gut an und freute sich darüber. Ursula bemerkte das und änderte ihren Plan, mit ihm zunächst nur Laufen zu üben.
Der Wald mit der davor liegenden Zigeunerwiese, die alte Holzbrücke über den auch bei strengem Frost durch sein warmes Quellwasser offenbleibenden Bach, der einsame Friedhof am Waldesrand und die Kiesgruben beim Ritter Neusaß, all das hatte auch noch Zeit. Sie stiegen wieder die Anhöhe hinauf und übten das Hinuntergleiten, bis die Dämmerung kam.
Vom Wald her näherten sich Stimmen. Bald danach hielten zwei Skiläufer, etwa so alt wie sie, bei ihnen. Ursula machte Eva und Rudi mit Martin bekannt. Dann fuhren sie noch einige Male gemeinsam ins Tal hinab, und Martin erhielt von den Hinzugekommenen ein erstes, bescheidenes Lob.
Als es dunkel und kalt wurde, schlugen sie im Flusstal den Heimweg ein. Durch ein Fenster des Bauernhauses schimmerte schwaches Licht. Der Rodelberg am Badewäldchen war schon verwaist. Bald sah man auf der Anhöhe die ersten Dächer Sprindts. Am Schulwäldchen trennten sie sich. Rudi, der in der Vogelweide wohnte, fuhr im Tal weiter. Evas Familie lebte im Lehrerhaus der Alten Schule, und bis zu Grafs war es auch nicht mehr weit. Martin kam müde, aber innerlich froh, mit Ursula zu Hause an. Sie hatte ihn auch durch den zweiten Tag seines Hierseins geführt.
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Am Montag meldete sich Martin in der Insterburger Oberschule an. Frau Graf hatte das zwar schon vorher getan, aber noch ohne bestimmten Termin. Ursula begleitete ihn auf seinem ersten Weg dorthin und nahm, um selbst nicht zu spät zum Unterricht zu kommen, einen Bus früher als sonst.
Beide stellten sich, wie es meistens die Fahrschüler taten, hinten auf den Perron, denn der Bus war zu dieser Zeit mit Berufstätigen voll besetzt. Das Mädchen freute sich, als Martin sogleich interessiert durch die Rückscheibe des Wagens den Lauf der Stromabnehmer zu verfolgen begann, besonders, wenn es durch Kurven oder über Weichen in der Oberleitung ging. Das Geschehen am Bahnübergang wurde ihm dadurch sicher gar nicht erneut bewusst. Am Alten Markt stiegen sie aus und kamen am Rathaus, der früheren Arbeitsstätte Ursulas Vaters, vorbei. Durch Nebenstraßen erreichten sie ihr Ziel.
In der Forchestraße, wo Martins Schule lag, trennten sie sich. Martin hatte es so gewollt. Ursula blickte ihm nach, bis er den Haupteingang betrat und setzte dann ihren Weg zum nahen Lyzeum fort.
Martins Erledigung der Anmeldeformalitäten verschlang viel Zeit, weil er dabei auch alle von ihm benötigten Lehrbücher, die es längst im Handel nicht mehr gab, leihweise aus dem Schulbestand erhielt. Danach wurde er zu seinen zukünftigen Mitschülern geführt.
Der Unterricht hatte längst begonnen, und der Lehrer, ein schon älterer Herr, war über die Störung durch den hinzukommenden Jungen nicht erfreut. So unterblieb Martins offizielle Einführung. Jedoch Helmut nahm sich als Klassensprecher seiner an und erklärte ihm das Wichtigste über den Unterrichtsablauf sowie die Lehrerschaft.
Bald nach Kriegsbeginn, als die Altstoffsammlung eingeführt wurde, hatte man Papierreste in einem stillgelegten Ofen verbrannt. Durch ein daraus im Dachstuhl des Hauptgebäudes entstandenes Feuer wurden die Physik- und Chemiesäle im Obergeschoss und auch die Aula mit den imposanten Gemälden über die Irrfahrten des Odysseus zerstört. Der Krieg hatte die Wiederherstellung dieser Räume blockiert. Deshalb fand der Unterricht in den beiden naturkundlichen Fächern im Lyzeum statt, natürlich von den Mädchen streng getrennt. Als Aulaersatz wurde die Turnhalle mitbenutzt.
Der früher ausschließlich aus Männern bestehende Lehrkörper war jetzt überaltert. Neuerdings wurde er durch junge Frauen, die ihre Berufsausbildung gerade abgeschlossen hatten, aufgefrischt. Ohne größere Unterrichtsausfälle wurde hier fast noch wie im Frieden gepaukt. Jedoch häufig erhielten Schulabgänger nur noch das Notabitur, da der Krieg die älteren Jahrgänge immer früher zu den Soldaten rief.
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