Meine ältesten Erinnerungen an Nachbarn haben sich durch Erstaunen eingeprägt. Verwundern war mein vorherrschendes Empfinden, so sagt mir mein Gefühlsgedächtnis. Ich fand, dass alle unsere Nachbarn nette Leute waren. Die eine Nachbarin schenkte mir Kekse, sie hieß Frau Knospe, sie hat sich später das Leben genommen. Die andere ließ mich zu ihren Kaninchen, damals hatten wir selbst noch keine. Sie hieß für mich die Mucki-Tante. Eine andere, Frau Straube, führte lange Gespräche mit mir, und Frau Schneider brachte mir das Beten bei. Aber das behielt ich damals für mich. Mit den Männern stand ich auf weniger vertrautem Fuß. Sie schienen mir unnahbar und waren auch meistens auf Arbeit. Ich machte auch hier die Erfahrung, dass sie nicht so furchtbar waren, wie ich gedacht hatte. Mein erleichtertes Erstaunen über die netten Leute muss daher gerührt haben, dass ich vieles von den Gesprächen meiner Eltern aufgeschnappt habe, die mir die Nachbarn in keinem allzu günstigen Licht erscheinen ließen. Es gab da Gesprächsfetzen, die etwa so gingen: "Der freut sich auch über jede versenkte Bruttoregistertonne und denkt nicht daran, dass wir das alles einmal bezahlen müssen" oder: „Die kriegt ihren Arm auch nicht hoch genug." Im Unterschied zu den Männern erwarteten einige Frauen etwas vom Führer, sie waren der NS-Frauenschaft beigetreten und sorgten dafür, dass bei bestimmten Anlässen die Fahne auf dem Vereinsplatz gehisst wurde.
Tages- und Nachtangriffe
In dieser Zeit gab es längst schon die Fliegerangriffe auf die Reichshauptstadt, die wir auf "Gemütlichkeit” im Splittergraben abwarten mussten. Diese Splittergräben waren auf dem Gelände einer nahe gelegenen Gärtnerei gebaut worden. Sie bestanden aus Betonplatten und Erde. Ich kann mich an ihren Bau erinnern, weil wir zuvor auf dem gelagerten Material herumgeturnt hatten, was uns natürlich verboten war. Allerdings gingen nicht alle Bewohner in diesen Splittergraben. In der Straße 6 gab es einen Bunker, dort konnte man Zimmer für, wie es dann später nötig wurde, jede Nacht reservieren. Die Leute machten sich diese Zimmer mit Matratzen, Decken und Stühlen wohnlich. Ein solches Zimmer stand meinen Eltern nicht zu. Andere standen auf dem Gang, auf dem es mit der Zeit immer enger wurde. Da mochten meine Eltern auch nicht stehen, weil sie bei einem Einschlag Panik befürchteten. Wir waren ein einziges Mal in diesem Bunker, weil uns ein Tagesangriff auf dem Weg von Neukölln nach Hause überrascht hatte. Ich konnte mich davon überzeugen, dass meine Eltern recht hatten. Es war eng in dem Gang, in dem wir nahe dem Eingang standen. Die Luft war dick, besonders bei mir da unten, bis mich mein Vater hochnahm, da wurde es etwas erträglicher. Außerdem heulten und schrien die Menschen durcheinander. Das gab es in unserem Splittergraben nicht. Dort ging alles ruhig zu. Man sorgte dafür, dass wir Kinder schlafen konnten.
Heute weiß ich natürlich, dass die Bombenangriffe ab 1943 zunächst mehrmals in der Woche kamen und dann gegen Ende des Krieges immer häufiger, auch tagsüber. In meiner Erinnerung gehören die Luftangriffe zum alltäglichen Leben von damals. Auch ich war auf den durchdringenden Sirenenton geeicht, der zuerst Vorwarnung, dann Warnung, nach den Bombenabwürfen Entwarnung bedeutete. Im Rundfunk erkannte ich sofort die Erkennungsmelodie, mit der uns die Sondermeldung verkündet wurde, dass in Kürze das Sirenengeheul zu erwarten war. Dieser Ton ging mir auch später, bei den mittwöchentlichen Sirenenproben tief in die Seele. Wenn der Radiosprecher verkündete, dass sich die Flugzeuge im Anflug über Hannover/Braunschweig befanden, war in wenigen Minuten mit der Sirenenwarnung zu rechnen. Wenn es hieß, dass sie nach Westen abdrehten, etwa in Richtung auf Köln oder Frankfurt a. Main, dann konnten wir aufatmen. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass es dort auch Kinder gab. Nur einmal, es muss schon gegen Ende des Krieges gewesen sein, hat mir mein Vater gesagt, dass vor uns schon englische Städte bombardiert worden waren und wir das jetzt zurückbekamen. Das leuchtete mir damals ein.
Ein Luftangriff löste in unserer Familie immer die gleichen Reflexe aus. Mein Vater musste zuerst auf die Toilette, die nur über einen kleinen Hof zu erreichen war. Er blockierte sie ziemlich lange, sodass ich warten musste. Er wollte auch gar nicht in den Splittergraben, es wäre ohnehin alles egal, sagte er. Meine Mutter dagegen drängte zur Eile und steckte noch einige Sachen in den Koffer, der stets in unserer Veranda bereitstand, um mit in den Splittergraben genommen zu werden. Mein Vater hielt auch das für überflüssig, schickte sich aber in die Anordnungen meiner Mutter. Nur dass ich meine Puppe mitnahm, dagegen hatte er nichts. Es leuchtete ihm offenbar ein, dass ich die brauchte. Ich kann mich erinnern, dass ich schlaftrunken war, wenn wir die 300 Meter zurücklegten, bis wir in unseren Splittergraben kamen. Manchmal wurde ich vorgeschickt auf diesem kurzen Weg, oft nahm mich irgendjemand bei der Hand. Manchmal aber auch nicht, und ich ging allein. Da war mir bange, besonders wenn die Weihnachtsbäume am Himmel standen und es schon irgendwo krachte. Denn die Zeiten zwischen Vorwarnung und Warnung waren so kurz, dass sich niemand in Sicherheit bringen konnte. Aber die gab es ja ohnehin nicht. Ich wusste, dass diese Art Weihnachtsbäume zu fürchten waren, wusste von meinen Eltern, dass sie markierten, wo Bomben abgeworfen werden sollten und fürchtete vor allem die, die direkt über mir standen. Einer meiner wiederkehrenden Albträume hängt mit diesen Weihnachtsbäumen zusammen. Ich sollte mit meiner Mutter eine mir noch nicht bekannte Familie besuchen, auf die ich neugierig war. Der Besuch war aus irgendeinem Grunde ausgefallen, und ich hatte die Spannung darauf mit in den kurzen Schlaf der folgenden Nacht genommen, die wieder unterbrochen wurde. Allein vorausgeschickt ging ich einen falschen Weg und stiftete damit ein großes Durcheinander. Meine Eltern mussten mich während des Alarms suchen. Befragt, wo ich denn hin gewollt hatte, gab ich den Namen der Familie an, die wir besuchen wollten. Die Suche nach irgendetwas und die Weihnachtsbäume über mir kehren oft in meinen Träumen wieder.
Im Ganzen muss ich sagen, hatten wir auf "Gemütlichkeit" am Rande Berlins großes Glück. Bomben haben nur wenige Lauben zerstört. Sie wurden durch Luftminen getroffen. Die konnte ich schon am Luftdruck und am Explosionsgeräusch erkennen, konnte sie von Brandbomben, die von den Erwachsenen für weniger gefährlich erklärt wurden, unterscheiden. Auch Sprengbomben gehörten zu den gewöhnlichen Dingen meiner kindlichen Welt. Die Luftminenwirkung hat mich erschüttert. Fassungslos stand ich vor der geschwärzten Brandstelle, die am Vortag noch eine Laube gewesen war, in der Leute gewohnt hatten. Es ragten nur noch ein paar verkohlte Balken hoch und einige gemauerte Steine, die von Küche und Herd übrig geblieben waren. Aber auch mit den Brandbomben war nicht zu spaßen. Ich merkte daran, dass den Erwachsenen auch nicht immer zu trauen war. Mein Bruder hatte Urlaub und musste mit uns in den Splittergraben. Eine Brandbombe durchschlug die Decke des Splittergrabens, ging dicht neben seinen Füßen in den Boden. Mein Vater, beherzt in Augenblicken, in denen es darauf ankam, nahm sie und trug sie vor die Tür, wo sie kurz darauf explodierte. Wieder einmal hatten wir Glück gehabt. Wir verloren auch sonst nichts. Mein Vater betonte zwar immer, dass wir sowieso nichts zu verlieren hätten, aber mir will das von heute her durchaus anders erscheinen. Da hatte er, glaube ich, nicht recht.
An einen Tagesalarm erinnere ich mich lebhaft, das hing mit der Nachbarin zusammen, die mir das Beten beigebracht hatte. Sie war mir bis dahin lieb und vertraut. Seit einigen Jahren wohnte sie neben uns, ich hatte miterlebt, wie Frau Schneider in die Laube von Herrn Schneider einzog. Wir konnten den Schneiders vom Wohnzimmerfenster aus in den Kaninchenhof gucken, von dem her es ziemlich unangenehm roch. Der Mann hatte seine erste Frau an einen anderen verloren, sie hatte ihm nur den Sohn hinterlassen. Der war ein Schulkamerad meines Bruders, er wurde von der Großmutter aufgezogen. Er fiel gleich im ersten Kriegsjahr. Die alte Frau wurde darüber ganz stumm. Ich habe sie als verhärmte Alte in Erinnerung. Sie zog weg, nachdem die zweite Frau Schneider gekommen war. Die neue Frau Schneider wohnte vorher in Stettin und hatte dort bessere Tage gesehen. Davon erzählte sie mir. Sie hatte dort mit einer weißen Spitzenschürze hinter dem Ladentisch eines Milchgeschäftes gestanden, und es war ihr gut gegangen, bis ihr Mann starb. Von einer solchen Laube, wie sie sie jetzt bewohnte, hatte sie dort nicht geträumt. Mir erschien die Schneidersche Behausung komfortabler als unsere eigene. Herr Schneider hatte einen Wintergarten an das Wohnzimmer gebaut und baute noch immer weiter. Aber ihr schien das alles nicht recht zu gefallen, sie trauerte Stettin nach, wo sie damals noch für einige Zeit hätte