Irgendwie haben wir es übers Wasser geschafft. Aber wir waren noch nicht zu Hause. In Höhe der Späthschen Baumschule, an der Baracke, die damals Schnitterkaserne hieß, wurden wir aufgehalten. Hier waren sowjetische Soldaten untergebracht, und wir hörten schon von Weitem laute Stimmen, Singen und Mundharmonika-Spiel. Es dämmerte bereits, aber es standen alle Fenster offen. Die Soldaten saßen auf den Fensterbrettern und auf der Türschwelle, das Gebäude schien von Menschen überzuquellen. Eine Gruppe von zwei oder drei Soldaten kam mit lautem Hallo auf uns zu. Sie ergriffen meine Mutter und zogen sie mit sich. Lina rannte davon, ohne sich um meine Mutter zu kümmern, und auch ich ergriff das Hasenpanier, ihr nach. Als wir nicht mehr rennen konnten, blieben wir stehen und schauten uns um. Niemand verfolgte uns. Die Straße war leer. Lina wollte nun so schnell wie möglich nach Hause. Aber ich hatte plötzlich Angst um meine Mutter. Ich wollte zurück, aber Lina hielt mich davon ab. Wir verbrachten bange Minuten, wartend, hoffend, auf ein Wunder scheint mir heute. Dieses eine Mal geschah ein Wunder. Meine Mutter kam nach kurzer Zeit in Begleitung eines höheren Dienstranges. Er hatte sie vor den Soldaten geschützt, es war ihr nichts passiert. Aber sie war vollkommen aufgelöst und fassungslos. Sie riss in solchen Momenten ihre braunen Augen immer weit auf. Sie sagte nichts, aber ich bezog ihre Fassungslosigkeit auch auf mich. Auf meine Feigheit.
Auch wenn sie später auf dieses Ereignis kam, erwähnte, dass ich weggerannt war, beschlich mich Unbehagen. Dabei schien sie mir nichts nachzutragen, sie entschuldigte es sogar mit dem Nachsatz: "Sie ist ja ein Kind.“ Unnachsichtiger sprach sie über Lina, der verzieh sie schon weniger, und auch mein Vater machte bissige Bemerkungen. Aber mein Unbehagen blieb. Ich spürte tief, dass ich versagt hatte. Und ich begriff, dass solche Tugenden, wie ich sie bei meinem Vater kennengelernt hatte, durchaus kein Geschenk waren, das einem zufiel. In dieser Zeit begann ich auch zu ahnen, dass der Schutz, den mein Vater geben konnte, nur sehr relativ war. Auch seine Kraft war begrenzt. Auch er hatte Angst, kannte die Lähmung, die sie bewirkt. Ebenso bemerkte ich, dass die mir so selbstverständliche und unentbehrliche Obhut meiner Mutter nur in unserem unmittelbaren Lebenskreis auf "Gemütlichkeit” so intakt war, wie sie mir schien. Ich bekam eine Ahnung davon, dass Sicherheiten brüchig sind, Gewissheiten nicht immer gelten können. Ich sah mich auf mich selbst verwiesen. Dennoch lebte ich in meiner kindlichen Welt so unbekümmert, wie die Verhältnisse es zuließen.
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