Gemütlichkeit. Ursula Reinhold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ursula Reinhold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847668480
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Mein Vater und seine zwei Schwestern erlebten ihn nur hinter dem "Neuköllner Tageblatt" verschanzt. Die ersten beiden Kinder meiner Großeltern wurden katholisch getauft, wie meine Großmutter es wollte. Die nächsten zwei evangelisch, nach der kirchlichen Zugehörigkeit meines Großvaters. Ob das vorher so besprochen worden war oder ob mein Großvater sie auf dem Standesamt so hatte eintragen lassen und inwiefern hierbei das eheliche Kräfteverhältnis zum Ausdruck kam, bleibt offen. Auf jeden Fall war es so, dass die erste Schwester meines Vaters vom Großvater katholisch und auf den Namen Anna standesamtlich eingetragen worden war. Das erfuhr ich aber erst sehr spät, weil sie für alle nur Lucie hieß. So hatte es meine Großmutter durchgesetzt, weil ihr Anna nicht gefiel, und es blieb so. Sie hat sich am Anfang ihrer Ehe durchgesetzt und später auch, aber vielleicht nicht mehr so entschieden. Sie muss viel Energie gehabt haben, ein ungezügeltes Temperament. Mein Großvater fand, dass sie sich viel zu oft aufrege und deshalb nicht alt werden würde. Er hatte recht. Er überlebte sie um mehr als zwanzig Jahre. Sie verbrauchte sich in ständigem Aufruhr gegen den Mann. Auch gegen seine Vernunft. Denn er hatte Schulbildung im Unterschied zu ihr. Sie konnte nur mit Mühe lesen und unterließ es deshalb. Sie war gläubig bis abergläubisch und spielte vor den Kindern Gespenst, um sie durch Erschrecken zum Gehorsam zu bringen. Mein Vater als der Älteste, tröstete dann die kleineren Schwestern, die das Theater noch nicht durchschauten. Das Phlegma, die Überlegenheit und Anpassungsbereitschaft des Mannes müssen sie zur Weißglut gebracht haben. Vielleicht war es nicht immer so, aber in den Erzählungen meines Vaters wurde das Familienklima nur in solchen eruptiven Szenen erinnert. Meine Großmutter schmiss meinem Großvater das Suppenfleisch hinterher, weil er es zu mager eingekauft hatte. In späteren Jahren noch warf sie Schippen voll Sand nach ihm, als sie, einem allgemeinen Trend folgend, ein Grundstück in Klosterfelde hatten. Der Grund für ihren Zorn: Er war um fünf Uhr morgens aufgestanden, hatte sie wach gemacht und nichts geschafft. Das brachte sie auf die Palme.

      Meine Großmutter wollte ihren Ältesten, nicht an einen „Fabrikklater“ verlieren. Damit meinte sie meine Mutter. Dass sie ihren Sohn schon verloren hatte, wusste sie nicht, oder sie ahnte es und gebärdete sich gerade deshalb so. Mein Vater sollte in die Betstunde für junge Männer gehen, die die katholische Kirche in der Richardstraße in Neukölln veranstaltete, wie seine zweite Schwester, die Else, die dort ihren späteren Mann kennenlernte, einen gut situierten Herrn. Er war Beamter, später Angestellter des Westberliner Senats, arbeitete dort bis zu seiner Pensionierung. Mein Vater weigerte sich, in die Bibelstunde zu gehen. Er wollte nicht beten, nachdem er an der Front erlebt hatte, wie Leute sich mit gesegneten Waffen totschossen. Er stieß zur Wandervogelbewegung. Hier war man friedlich und ging in die Natur. "Fürsten in Lumpen und Loden". Wandern, Nacktbaden, Rabindranat Tagore lesen und reden. Das kostete kein Geld. Aber das war nur ein Grund, weshalb sich meine Großmutter aufregte, wenn sie überhaupt Gründe brauchte, sich aufzuregen. Eher liegt nahe, anzunehmen, dass sie keine brauchte oder sowieso genügend hatte, wie man es nehmen will. Der zweite Grund ihrer Aufregung war ohnehin gegenstandslos geworden. Mein Vater hatte kurz nach seiner späten Lehrzeit die Arbeit verloren und konnte also gar kein Kostgeld abgeben. Deshalb gewöhnte er sich auch so schwer an den Gedanken, dass meine Mutter ein Kind von ihm bekam. Erschrocken war auch meine Mutter, weshalb sie noch im sechsten Monat eine Abtreibung versuchte. Aber mein Bruder blieb. Ein junges Mädchen ohne mütterlichen Ratschlag wusste nicht viel.

      Sie hatte zu diesem Zeitpunkt nur noch einen Vater, dem sie im Krieg die Beine zerschossen hatten. Er hatte steife Knie und litt große Schmerzen. Er starb, bald nachdem mein Bruder geboren war. Meine Mutter hatte man mit zwei jüngeren Schwestern 1916 in ein Waisenhaus gebracht, als auch die Stiefmutter starb, die der Vater geheiratet hatte, nachdem er Witwer mit vier Kindern geworden war. Meine Mutter war sechs Jahre alt, als ihre leibliche Mutter an einer Unterleibssache zugrunde ging. Die jüngste Schwester, Hilde, war gerade ein Jahr, Lucie, die dritte, vier und Otto, der Älteste, neun Jahre alt, als ihnen die Mutter wegstarb. Von ihrer richtigen Mutter hat meine Mutter nur wenig im Gedächtnis behalten. Anders war das mit der Stiefmutter. Die Erinnerungen an sie blieben meiner Mutter lebendig. Für mich haben ihre Erzählungen das Bild von Stiefmüttern bestimmt. Die Frau muss so gewesen sein, wie man Stiefmütter aus Märchen kennt. Von ihr bekamen die drei Mädchen und der ältere Junge nur eine einzige Brotschnitte zum Abendbrot, verschieden dünn oder dick, wie man's nimmt. Es gab während des 1. Weltkrieges, wie man ihn später nannte, viel Hunger. Darauf konnte sie sich herausreden. Meine Mutter erzählte, dass sie und die jüngeren Schwestern für jede Laus, die sie aus der Schule in ihren langen Zöpfen mitbrachten, eine Ohrfeige einstecken mussten. Hilde, die kleinste der Schwestern, bekam manchmal Schokolade von Onkels, die am Vormittag zu Besuch kamen. Otto, schon vierzehnjährig, soll dann immer "Schweigegeld, Schweigegeld" gerufen haben. Warum mein Großvater diese Frau geheiratet hat, konnte meine Mutter nicht sagen. Einige Jahre hindurch hatte er es mit bezahlten Hilfen versucht, Frauen, die die Kinder für Geld betreuten. Aber das Geld war nicht reichlich, und außerdem wuchsen die vier Kinder den Tanten über den Kopf. Deshalb wohl hatte er sich für die Heirat mit dieser Frau entschieden. 1917 starb auch sie, und die drei Schwestern kamen ins Waisenhaus. Woran die Frau starb, wusste meine Mutter nicht. Die Nachbarn sprachen über deren Krankheit nur hinter vorgehaltener Hand. Zuletzt war sie im Krankenhaus, und der Vater bekam keinen Fronturlaub.

      Das eine Jahr Waisenhaus ist in der Erinnerung meiner Mutter nicht das schlechteste ihres Lebens gewesen. Es gab dort etwas mehr zu essen als bei der Stiefmutter, besonders von den weißen Bohnen konnten sie satt werden. Nach einem Jahr brachte man sie auf einen Bauernhof nach Lindenberg im Kreis Beeskow. Die Bauern suchten eine Magd, und da meine Mutter dreizehn Jahre alt war, erwarteten sie sich von ihr eine Hilfe. Die zwei jüngeren Schwestern kamen zu anderen Bauern im gleichen Dorf. Das war eine Bedingung der Waisenhausleitung, die die Schwestern nicht getrennt sehen wollte. Im Ganzen ging es meiner Mutter in dieser Bauernfamilie nicht schlecht. Sie lernte alle bäuerlichen Arbeiten, hatte es dabei natürlich schwerer als die gleichaltrigen Söhne des Bauern, denen alles vertraut war. In Lindenberg ging meine Mutter noch ein Jahr in die zweiklassige Dorfschule. Dort lernte sie nach eigener Aussage nichts mehr dazu. Entweder fiel der Unterricht wegen Siegesfeiern aus, die der Lehrer Sommerfeld mit kurzen Chorproben begehen ließ. Oder sie konnte nicht in die Schule gehen, weil wichtige Feldarbeiten ins Haus standen. Wenn sie in der letzten Bank saß, weil sie eine gute Schülerin war, las sie die "Gartenlaube", die sie auf dem Boden des Bauernhauses gefunden hatte. Zu den Bauersleuten fasste sie schnell Zutrauen, als sie bemerkte, dass die von ihr keine andere Arbeit erwarteten als von sich selbst. Auch konnte sie sich das erste Mal in ihrem Leben wirklich satt essen, Kartoffeln, Brot und Quark waren immer ausreichend für alle da. Nicht nur am Anfang, wie sie zunächst befürchtet hatte.

      Mit achtzehn Jahren verließ sie Lindenberg und ging wieder nach Berlin zu ihrem Vater. Der bewohnte eine Kellerwohnung, in der die wenigen übrig gebliebenen Möbel seines ehemaligen Hausstandes untergebracht waren. Das Wohnzimmer war zugleich die Werkstatt, in der er Brieftaschen, Etuis und Portemonnaies herstellte. - Die Jänickes, wie die Bauernfamilie hieß, hatten meiner Mutter von ihrem vierzehnten Lebensjahr an Lohn auf ein Sparbuch bezahlt. Aber von dem Geld sah meine Mutter nichts. Die Inflation hatte den Ertrag von vier Arbeitsjahren aufgezehrt. So brachte meine Mutter 1923 nur die Schuhe und das Kleid mit nach Berlin, die sie zu ihrer Konfirmation getragen hatte. Beide waren ihr zu groß, weil man sie auf Zuwachs gekauft hatte. Meine Mutter trug Zeitungen aus, dafür bekam sie Geldscheine mit vielen Nullen. Einige dieser Inflationsnoten haben in meiner Kindheit noch existiert, und ich war immer ganz fassungslos über die hohen Beträge, die ich in meinem Kaufmannsladen hatte. Auch der Bruder Otto wohnte beim Vater in der Kellerwohnung. Er hatte seinen Freiplatz auf der Handelsschule wegen Bummelei verloren, während der Vater im Krieg war.

      Otto war mit Karl befreundet, mit dem er in den Arbeitersportverein „Fichte“ ging. So lernte mein Vater die Grete kennen, die Schwester seines Freundes. Sie gefiel ihm, er lud sie zu gemeinsamen Wanderungen ein, und es dauert nicht lange, bis sie schwanger war.

      Nachdem meine Mutter in andere Umstände geraten war, wollte sich mein Vater das Leben nehmen. Aber dann besann er sich und ging zusammen mit Otto auf die Walz, ins Ruhrgebiet. Die Ausweispapiere warfen sie beide weg, weil sie sowieso ein Nichts waren, wie sie feststellen mussten, ohne Arbeit und Geld. Natürlich konnte da nur die Weltrevolution Abhilfe schaffen, für die Otto schon im Kommunistischen Jugendverband