„Das ist ein feiner Name. Aber jetzt musst du zu deiner Freundin. Sie wartet schon sehnsüchtig auf dich. Tschüss, Andres.“
„Tschüss, Tante.“
Silvie stand am Küchenfenster, als er hereinkam.
„Was hat dir die alte Hexe denn erzählt? Sie führt sich hier auf, als wäre sie die Hausherrin!“
„Ich möchte dich bitten, meine Tante nicht so zu nennen“, entgegnete er ruhig.
Sie ging auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf den Mund.
„Entschuldige bitte, aber deine Tante hat mich so aufgeregt!“
„Tante Milvi sagt immer was sie denkt und sie ist die ehrlichste und gerechteste Person, die ich kenne.“
„Gerecht? Ist es etwa gerecht von ihr, dass sie mir sagt, ich wäre die falsche Frau für dich?“
Andres seufzte innerlich. Tante Milvi hatte Recht gehabt, der Abend versprach nicht so gut zu werden.
„Wieso sagst du nichts? Oder denkst du vielleicht genauso?“
Er zog sie an sich und sah ihr offen in die Augen.
„Wenn ich genauso denken würde, würde ich dann noch mit dir zusammen sein?“
Sie sah ihn schmollend an.
„Also willst du wirklich jeden Tag mit mir schlafen gehen und mit mir aufwachen? Ich habe nämlich meine Sachen schon in den Schrank gepackt.“
Er sah sie etwas verdutzt an.
„Heißt das … dass du hier einziehst?“
Sie schenkte ihm ein schiefes Lächeln.
„Ich bin es eigentlich schon. Freut dich das?“
„Ich bin zwar etwas überrascht, aber es freut mich natürlich.“
Sie schmiegte sich an ihn und gab ihm wieder einen Kuss.
„Hast du auch nichts dagegen, wenn der Hund draußen bleibt? Ich fände es so viel besser.“
Andres dachte an Nelis traurigen Blick. Er hatte jedoch keine Lust jetzt noch auf eine Diskussion.
„Sie kann vorerst draußen bleiben.“
„Du liebst mich also doch mehr als sie!“, strahlte sie ihn glücklich an.
Er nickte nur.
*
Silvie funkelte Andres verärgert an und erhob sich energisch vom Küchentisch.
„Nein, sag bitte, dass das nicht wahr ist! Wir sind heute zusammen zu der Party eingeladen, du und ich! Und jetzt willst du mir weismachen, dass du nicht zu der Party gehst, weil du dem Mädchen, das nicht mal ihren Namen kennt, Schuhe kaufen musst und dann mit ihr im Park spazieren gehst?“
„Ich habe sie gerettet und fühle mich für sie verantwortlich. Und ich wünsche mir einfach, dass sie wieder gesund wird. Es kann sie im Moment niemand von ihren Verwandten oder Freunden besuchen, weil niemand weiß, wer sie ist. Die Polizei konnte auch keine Hinweise auf ihre Identität am Unglücksort finden. Sie hat praktisch niemanden außer mir.“
Sie schnaubte verächtlich.
„Du fühlst dich wohl in der Rolle eines Ritters besonders edel, was?!“
Er seufzte und versuchte ruhig zu bleiben. Irgendwie zerrten die ständigen Streitereien mit ihr an seinen Nerven. Sie hatte andauernd etwas an ihm oder an dem was er tat auszusetzen.
„Silvie, mein Entschluss steht fest. Ich fahre heute nach Tallinn, weil ich es Eva versprochen habe.“
„Ach, sie heißt also Eva? Ich denke, sie kann sich an nichts erinnern?!“
„Ich habe ihr den Namen gegeben, bis sie sich an ihren richtigen wieder erinnert.“
Silvie kicherte leicht hysterisch.
„Den Namen hast du ihr also gegeben? Wie schön! Na, sie scheint dir ja enorm wichtig zu sein!“, sie wandte sich abrupt von ihm ab und schritt energisch zur Treppe. „Wenn es dir wirklich so wichtig ist, dann fahr doch hin! Ich gehe eben mit meiner Freundin zu der Party!“, rief sie ihm über die Schulter zu und stolzierte nach oben.
*
Eva saß auf dem Stuhl am offenen Fenster und blickte nach draußen. Die Äste des großen Lindenbaums bewegten sich in dem leichten Wind, der den süßen lieblichen Duft der Lindenblüten in ihr Zimmer hereintrug. Heute war es angenehm warm. Es schien den ganzen Tag die Sonne und die Vögel zwitscherten lebhaft ihre Melodien. Sie blickte in den blauen Himmel, der mit weißen Federwolken überzogen war und verspürte große Lust, die Schönheit dieses Momentes auf einem Blatt Papier einzufangen. Konnte sie denn überhaupt malen? Sie wusste es nicht, nahm sich aber vor, es bei Gelegenheit auszuprobieren. Es klopfte leise an die Tür.
„Herein!“, rief sie und erhob sich, voller freudiger Erwartung.
Andres trat ein und staunte nicht schlecht, sie außerhalb des Bettes zu sehen. Sie hatte die weiße Dreiviertelhose und das blaue T-Shirt, mit einem glitzernden Schmetterling vorne drauf, an. Er lächelte und kam auf sie zu.
„Hallo! Ich sehe, es geht dir besser und es freut mich, dass die Sachen passen.“
Sie strahlte ihn an.
„Hallo, Andres! Ja, sie passen. Die Hosen sind zwar etwas weit, aber da sie alle einen Gummibund haben, halten sie auf den Hüften.“
Er streckte ihr die Tüte mit den Schuhen hin.
„Hier, probiere bitte die Schuhe an. Ich habe dir, auf Empfehlung der Verkäuferin, ein Paar Ballerinas und ein Paar Sportschuhe gekauft. Falls sie nicht passen sollten, kann ich sie gleich noch umtauschen. Der Laden hat bis sechzehn Uhr geöffnet.“
Sie ergriff die Tüte, setzte sich wieder hin und nahm die Sportschuhe heraus. Beugte sich dann nach vorne und wollte gerade den ersten Schuh anprobieren, als ihr dunkel vor den Augen wurde. Sie richtete sich schnell wieder auf, schloss die Augen und atmete tief durch. Andres beugte sich vor und fasste ihr an die Schulter.
„Eva? Geht es dir nicht gut?“, fragte er besorgt.
Sie schlug die Augen wieder auf und sah ihn an.
„Kann mich leider noch nicht bücken. Dann wird mir gleich schwarz vor Augen.“
„Gib mir mal den Schuh.“
Er nahm ihr den Schuh ab, zog die Verschnürung auseinander, ging vor ihr in die Hocke und stellte den Schuh vor sie hin.
„So, jetzt hinein mit deinem Fuß.“
Sie gehorchte und schlüpfte mit dem Fuß hinein. Er zog die Schnüre zu und wiederholte den Vorgang mit dem zweiten Schuh.
„Am besten, stehst du jetzt auf und läufst ein bisschen umher.“
Sie erhob sich, trat einige Male auf der Stelle und lief dann ein paar Schritte.
„Etwas groß, aber mit Socken würden sie, denke ich gut passen.“
„Ach ja, Socken brauchst du natürlich auch noch. Daran habe ich leider nicht gedacht. Na gut, probieren wir jetzt erst mal die anderen Schuhe an.“
Die Ballerinas waren ebenfalls etwas zu groß und ihre Fersen rutschten beim Laufen aus den Schuhen heraus. Andres schüttelte kritisch den Kopf.
„Nein, die muss ich auf jeden Fall umtauschen, die kann man nicht fester schnüren oder mit Socken anziehen.“
Er nahm die Schuhe an sich, legte sie in die Tüte und blickte dann wieder zu ihr.
„Bin in spätestens einer halben Stunde wieder da, dann geht es hinaus, in den Park.“
*
Schlendernd gingen sie durch den weitläufigen,