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„Alles in Ordnung?“, fragte Anna leicht besorgt, als sie Marit so in sich gekehrt in der Küche fand, das Bund Möhren noch immer im Schoß haltend. Doch Marit nickte.
„Ich hatte eine seltsame Begegnung heute Morgen“, setzte sie an und erzählte von der Verfolgung durch den Unbekannten.
„Oh Scheiße, das ist ja peinlich!“, kommentierte Anna die Geschichte an dem Punkt, als Marit von ihrer fälschlicherweise ausgeführten Schlagstockattacke berichtete.
„Hoffentlich hat er dich nicht total zur Schnecke gemacht!“ Anna glaubte die Scham ihrer Freundin in diesem Moment so gut nachempfinden zu können, dass sie die Hände vors Gesicht geschlagen hatte. Doch Marit zuckte nur verständnislos die Schultern.
„Er hat nicht einmal auf einer Entschuldigung bestanden“, bemerkte sie nun doch etwas verwirrt, nicht über seine, sondern über ihre eigene widersprüchliche Reaktion.
„Wie bitte?“, fragte Anna und hob verwundert die Augenbrauen, bevor Marit sie aufklärte, gewissermaßen in Echtzeit, denn ihr selbst wurde auch erst jetzt wirklich bewusst, wie die Dinge sich abgespielt hatten.
„Ich glaube, er ist mir doch gefolgt. Ja, sicher, ist er das, sonst passt seine Reaktion auch gar nicht.“
Zu Annas Erschütterung fing Marit bei diesem Gedanken an zu Lachen.
„Wieso kannst du darüber lachen? Wer weiß, was passiert wäre, wenn du den Schlagstock nicht dabei gehabt hättest?“, fragte sie irritiert. Doch Marit gab lediglich ein nüchternes „Aber ich hatte ihn ja dabei“ zur Antwort.
Das eigentliche Gefühl, dass ihre Seele in diesem Augenblick flutete wie seichte Wellen das Wattenmeer, scheinbar unbedeutend doch in Wirklichkeit kraftvoll und unaufhaltsam, konnte sie einfach nicht so genau in Worte fassen, dass sie es Anna hätte begreiflich machen können. Es war ein triumphales Hochgefühl, zusammengesetzt aus dem Wissen darum, dass er ihr gefolgt war, weil er an ihr interessiert war, und dem Bewusstsein ihrer eigenen Überlegenheit. Für sich allein genommen hätte die Verfolgung, welche Motivation auch immer dahinter gesteckt haben mochte, nicht ihren beängstigenden Charakter verloren. Er hatte sie schließlich mit seiner Aufdringlichkeit in Angst und Schrecken versetzt. Ihren Schrecken hatte die Situation nur dadurch verloren, dass sie ihn besiegt hatte, sie hatte sich als die Stärkere erwiesen, aber er war doch noch immer ein Bewunderer, ein Gefolgsmann im wahrsten Sinne des Wortes, wie sie lächelnd für sich selbst feststellen musste. Dann dachte sie an den verletzten Mann am Boden und stöhnte vernehmlich. Und sie hatte ihn ziehen lassen!
Diesen seltsamen seelischen Entwicklungen ihrer Freundin konnte Anna natürlich nicht folgen. Sie nahm nur wahr, dass Marit in den folgenden Stunden kaum ansprechbar war und außer einigen gelegentlichen Seufzern kaum etwas von sich gab.
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Gegen 15.00 Uhr am Nachmittag kam Chiara aus der Klinik zurück, müde und abgespannt und dankbar, dass Anna etwas gekocht hatte. An diesem Tag hatte sie ihren ersten Coronapatienten auf der Intensivstation versorgen müssen, und die endgültige Gewissheit, dass das Virus sie erreicht hatte und bis in die letzte Bastion vorgedrungen war, wo nur noch die Atemgeräte den Tod verhindern konnten, hatte sie vorübergehend verstummen lassen. Im Krankenhaus hatte es sie sogar unempfindlich gemacht gegen Sandros Langsamkeit. Jetzt wurde es ernst, und es war nötig, alle Kräfte für die Aufgaben zu nutzen, die vor ihnen lagen, und sie nicht in zwischenmenschlichen Nebensächlichkeiten zu vergeuden. Für ein beklemmendes Angstgefühl war Chiara zu professionell, es war eher der Wunsch, ein solches nicht bei ihrer Schwester aufkommen zu lassen, die zu kindischen Panikanfällen neigte, der sie jetzt bei Tisch schweigen ließ, so dass eine seltsam anmutende Runde still in sich versunkener Frauen um den Küchentisch herumsaß, die ein außenstehender Betrachter leicht für eine Trauergemeinschaft hätte halten können. Anna, deren Schweigen weder ernst wie Chiaras noch entrückt wie Marits war, sondern nur dem zufriedenen Genuss eines wohlgelungenen Essens entsprang, brach es als erste.
„Ich habe gestern Pizza an ein paar Corona-Kranke ausgeliefert. Kannst du mir sagen, ob sich das Virus über Geldscheine überträgt?“, fragte sie ihre Schwester beiläufig.
Chiara spitzte ein wenig die Lippen, bevor sie antwortete.
„Ja, sicher. Du solltest auf jeden Fall in nächster Zeit Handschuhe tragen. Und Papa beim Geldzählen ebenso. Du hast dir hoffentlich gleich die Hände gewaschen, als du nach Hause kamst.“
„Ich glaube schon“, antwortete Anna etwas unsicher und runzelte die Stirn, sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern.
„Wo war das denn?“, hakte Chiara nach und Anna antwortete etwas kurz angebunden:
„Konrad-Adenauer-Allee 19.“
Sie hatte das unbehagliche Gefühl, sich wegen der fehlenden Handschuhe fahrlässig verhalten zu haben, zumindest in den Augen ihrer Schwester.
„Ach so, die Typen aus Ischgl. Von denen habe ich schon gehört“, bemerkte Chiara.
Anna war erstaunt, ihre Schwester interessierte sich sonst nicht für Klatsch und Tratsch, aber im Fall von Corona war das vielleicht etwas anderes.
„Die WG dort ist dem Gesundheitsamt bekannt und von da aus sind wir informiert worden. So ein Hotspot sollte im Krankenhaus ja auch wirklich bekannt sein.“
Bei dem Wort Hotspot bekam Anna Herzklopfen.
„Na ja, eigentlich sollte doch wohl die ganze Bevölkerung Bescheid wissen, wer da wohnt, oder nicht? Also ich wusste nicht, was mich da erwartet. Was heißt denn eigentlich Ischgl-Typen?“
„In Ischgl in Tirol hat ein infizierter Barmann beim Après-Ski halb Europa angesteckt. Die Männer-WG hier bei uns war zusammen dort, anscheinend eine Clique seit Studententagen – alle infiziert. Also sind sie hier gemeinsam in das Haus eines der Typen gezogen, um gemeinsam die Infektion durchzustehen“, klärte Chiara sie auf und urteilte dann mit spitzer Zunge:
„Wahrscheinlich spielte ein etwas spätpubertärer Wunsch nach Verlängerung des Après-Ski-Gefühls bei der Entscheidung auch eine Rolle.“
Anna dachte an die laute Musik vom Vorabend und nickte.
„Ist doch eigentlich auch nur vernünftig, oder?“, mischte sich jetzt Marit ins Gespräch, „So können die stärker von der Krankheit Betroffenen von den anderen mitversorgt werden, ohne dass die Gefahr besteht, dass es Neuinfizierte gibt. Ich meine, dass das auch die Begründung war, die in der Zeitung stand.“
Chiara nickte, dem war nicht zu widersprechen. Anna fragte sich unterdessen, warum sie anscheinend die einzige war, die von den „Ischgl-Typen“ vorher nichts gehört hatte. Aber der Blonde hatte behauptet, es sei ihr erster Tag. Wie konnte da überhaupt schon etwas in den Zeitungen gestanden haben? Sie schwor sich, in Zukunft peinlichst aufs Händewaschen zu achten, dann überließ sie Marit und Chiara das Aufräumen der Küche und ging zu ihrem Vater hinunter.
Mit leichter Panik in der Stimme erzählte sie von einem Corona-Patienten, für dessen Bestellung sie den Betrag kassiert habe, und fragte ihn besorgt, ob er das Geld vom Vortag schon gezählt habe. Mit einem Lächeln deutete Angelo auf die Box mit Einweg-Handschuhen, die neben der Kasse stand, und sagte:
„Die benutze ich schon seit einer Woche zum Geldzählen. Und außerdem steht im Toilettenschrank eine Flasche Sagrotan, mein Kind.“
Erst einmal beruhigt verbrachte Anna den Rest des Nachmittags mit der Lektüre eines Romans auf dem Sofa, während sich Chiara ins Badezimmer zurückgezogen hatte, von wo aus sich der Duft ihres Lavendel-Badeöls verbreitete. Die Wohnung, die die drei Frauen sich teilten, war vom Zuschnitt her für eine Wohngemeinschaft eigentlich ungeeignet. Ein kleiner, offener Flur verband die Eingangstür mit einem großen, mit Parkett ausgelegten Wohnraum, der eigentlich eher eine Diele war, da von ihm die anderen Räume abzweigten. Sie nutzten ihn als gemeinschaftliches