Corona & Amore. Susanne Tammena. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Tammena
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783753150741
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      „Morgen ist auf unabsehbare Zeit mein letzter freier Samstag.“

      „Tut mir Leid“, sagte Anna voller Mitgefühl, obwohl sie selbst vor drei Jahren ihr letztes freies Wochenende gehabt hatte. Aber das war natürlich etwas anderes, in der Gastronomie lief immer alles anders.

      Marits Haare leuchteten unter der Küchenlampe in ihrem hellen natürlichen Gold und den kräftig dunkelgrünen und silberfarbenen Strähnen, die sie sich vor einigen Wochen auf der linken Seite hineingefärbt hatte. Die Haare über dem rechten Ohr hatte sie dagegen so kurz geschoren, dass die verbliebenen Stoppeln wie der Flor eines Teppichs zum Darüberstreichen animierten. Es war die Reaktion auf ihre Trennung von Erik gewesen, den sie sehr geliebt hatte, bevor er mit einer Kollegin ein Kind gezeugt hatte. Eigentlich liebte sie ihn noch immer, aber seine Entscheidung war eine endgültige gewesen.

      „Ist Chiara noch nicht wieder da?“, fragte Anna, während sie im Kühlschrank nach verwertbaren Lebensmitteln für ein schnelles Abendessen suchte. Dass sie im Restaurant arbeitete, hatte irgendwie stillschweigend dazu geführt, dass die Frage der Mahlzeiten meistens von ihr beantwortet werden musste. Eine Tatsache, über die sie sich manchmal ärgerte, wenn sie ohnehin schlechter Stimmung war und sämtliche Ungerechtigkeiten des Lebens ihr Bewusstsein fluteten. Doch an den meisten Tagen akzeptierte sie es gern als eine Aufgabe, die ihr ganz gerechterweise als der Qualifiziertesten zugefallen war. Marit schüttelte den Kopf und murmelte gedankenverloren: „Nicht so viel Knoblauch“, als wenig später der wunderbare Duft von Olivenöl und Kräutern aus der heißen Pfanne stieg. Anna schwenkte die übriggebliebenen Spaghetti vom Mittagessen durch das heiße Öl und stellte die Pfanne mit einem Strohuntersetzer auf den Tisch. Marit holte zwei Gabeln aus der Schublade und sie aßen direkt aus der Pfanne.

      Gutes Essen basierte auf guten Zutaten und guter Zubereitung und nicht auf der Formvollendung der Tafel, diese Ansicht hatte Angelo ihr vererbt. Chiara war da allerdings etwas eigen und empfand schon seit Jahren die Tischmanieren ihrer Familie in allen Punkten, die sie von den Sitten in den Häusern ihrer Schulkameradinnen unterschied, als zutiefst verachtungswürdig. Aber nun war sie ja nicht dabei, und Anna genoss die Freiheit, ohne drohende Kritik mit der Gabel in der schweren gusseisernen Pfanne herumstochern zu dürfen.

      „Die Corona-Maßnahmen sind wirklich eine Katastrophe“, sagte Marit, nachdem sie das Essen weitgehend schweigend beendet hatten.

      „Wieso?“, fragte Anna halbherzig, „Sie sind doch ganz vernünftig und plausibel, oder etwa nicht?“

      „Kann sein, aber dann ist Corona eben eine Katastrophe“, gab Marit zu, was Anna zum Lachen brachte.

      „Stimmt!“, gab sie ihrer Freundin scherzhaft recht, „Aber warum im Besonderen?“

      Marit war nicht in der richtigen Stimmung für Spitzfindigkeiten, weshalb sie bereits die Lust verloren hatte, Anna eine Antwort zu geben. Doch ihre Freundin spürte ihren Verdruss und fragte mit echtem Interesse in der Stimme noch einmal nach.

      „Was bereitet dir Sorgen?“

      Marit seufzte und raffte sich zu einer Antwort auf.

      „All die Zwangsneurotiker, denen wir über die Jahre beigebracht haben, sich nicht ständig fieberhaft zu schrubben – jetzt sollen wir ihnen das Gegenteil erzählen und sie zum dauernden Händewaschen anhalten, und sie werden um Jahre zurückgeworfen. Die Hypochonder, die sich auf einmal in bester Gesellschaft sehen. Und was ist mit den Depressiven, die man jetzt allein zu Hause lässt? Was ist mit den ganzen unerkannten Fällen, die nur deswegen noch nicht von der Brücke gesprungen sind, weil sie am Arbeitsplatz ein paar nette Kollegen haben, und die jetzt niemanden mehr sehen. Auch Selbsthilfegruppen treffen sich nur noch eingeschränkt. So viele Psychotherapeuten hat das Land nicht, um alles in Einzeltherapien per Videokonferenz aufzufangen. Ich frage mich, wann der erste Amokläufer durch die Stadt rennt, weil er denkt, sein klopfendes Heizungsrohr sende in Wirklichkeit Morsesignale aus dem Weltraum.“

      Anna verkniff sich ein Lachen. Marit hatte täglich mit solch geistig fehlgeleiteten Personen zu tun, ihre Befürchtungen musste man ernst nehmen. Doch eine allen Umständen angemessene Konsequenz ließ sich daraus kaum ziehen. Kopfschüttelnd fuhr Marit fort.

      „Ich frage mich, welche Statistik uns am Ende dieser Tage in Angst und Schrecken versetzen wird, die der Toten oder die der Psychopathen.“

      „Aber wie soll die Regierung sonst damit umgehen?“, fragte Anna, die die ihnen allen auferlegte Isolation tatsächlich für ein notwendiges Opfer hielt, dass nun einmal gebracht werden musste.

      „Wir zerstören gerade Teile einer gut funktionierenden Gesellschaft, ihre Wirtschaft, ihre Sozialsysteme, um einige Tausend Alte und Immungeschwächte zu schützen. Deren Tod wäre eine Art natürliche Auslese. Stattdessen lassen wir zu ihrem Schutz andere krepieren“, behauptete Marit bitter.

      Anna wurde bei dieser Äußerung zutiefst unwohl. Alles in ihr sträubte sich gegen die Vorstellung auch nur einen einzigen Toten als notwendiges Opfer zu akzeptieren.

      „Das klingt so unglaublich zynisch, als wärst du nur noch einen Katzensprung von der Idee des Volkskörpers entfernt, in dem schwache Elemente ausgemerzt werden müssen“, sagte sie vorwurfsvoll.

      „Quatsch“, verteidigte Marit ihre Position, „ich rede ja eben nicht von ‚Ausmerzen‘, sondern von natürlicher Selektion. Covid-19 wird doch in ein paar Wochen nicht verschwunden sein. Es ist doch eine glatte Lüge, wenn man behauptete, man wolle die Alten schützen. In Wirklichkeit schützt das System sich selbst. Nichts wäre für den Gesundheitsminister entsetzlicher, als zugeben zu müssen, dass auch nur ein Coronapatient wegen fehlender Geräte oder eines fehlenden Platzes auf der Intensivstation nicht behandelt werden konnte. Ein deutscher Arzt, der sich entscheiden müsste, wen seiner Patienten er behandelt und wen nicht – das ist das eigentliche Horrorszenario, das riecht zu sehr nach unnatürlicher Auslese, nach Euthanasie!“

      Marit hatte sich in Rage geredet.

      „Wenn sie aber alle hübsch hintereinander sterben, wohl versorgt mit Sauerstoff und Schläuchen – dann kann dagegen niemandem ein Vorwurf gemacht werden. Sterben werden die Alten aber so oder so.“

      Anna fehlten die Argumente, mit denen sie die Meinung ihrer Freundin hätte widerlegen können, doch ganz ohne Widerspruch wollte sie sie auch nicht stehenlassen.

      „Das kann ich nicht glauben. Nicht, dass alle Alten sowieso sterben würden, und auch nicht, dass in den Krankenhäusern bei anständiger Therapie nicht auch Patienten geheilt würden. Und was ist mit der Arbeit an den Impfstoffen? Natürlich ist es ein Wettlauf gegen das Virus, deswegen muss es verlangsamt werden.“

      Marit erwiderte nichts mehr darauf. Diskussionen zwischen ihnen endeten häufig damit, dass Marit Annas Meinung einfach im Raum stehen ließ, ohne noch einmal darauf einzugehen, und trotz dieses letzten Wortes, das damit ihres war, was doch eigentlich wohl bedeutet hätte, dass sie den Sieg in der Auseinandersetzung davongetragen hatte, blieb in Anna stets das Gefühl zurück, die Unterlegene zu sein.

      „Ich gehe jetzt ins Bett! Gute Nacht“, verabschiedete Marit sich, und Anna nickte.

       2. Tag

      Die Straße lag noch in tiefster Dunkelheit, als Chiara am folgenden Morgen das Haus verließ, in dem sie - ohne etwas zu essen - nur einige Stunden mit Schlaf verbracht hatte. Sie hatte Spätdienst gehabt, gleich würde sie Frühdienst haben, eine entsetzliche Zumutung, für ihre Füße noch mehr als für ihren müden Verstand, die in normalen Zeiten auf ihren erklärten Widerstand gestoßen wäre. Doppelschichten waren normal, das war sie gewöhnt, wenn man erst einmal da war, konnte man einfach weiterarbeiten. Aber diese für einen anständigen Schlaf viel zu kurze Unterbrechung grenzte an Folter. Aber die normalen Zeiten waren vorbei und sicherlich hätten die Personalräte am Klinikum nur ein müdes Lächeln für sie gehabt, wenn sie sich tatsächlich dazu entschlossen gehabt hätte, Beschwerde einzureichen.

      Sie war keine Aufrührerin, keine egoistisch stets auf die eigenen Rechte bedachte Anklägerin, auch keine von den jammernden Heulsusen, die auch im normalen Betrieb schon