„Hau ab! Sonst schlag ich noch mal zu!“
Selbst wenn Spicy gewollt hätte, wäre es ihm im Moment nicht möglich gewesen, ihrem Befehl Folge zu leisten. Noch immer japsend ließ er sich nach hinten fallen und rutschte mit dem Rücken an der Hauswand hinunter, bis er auf dem feuchten Bürgersteig saß. Marit hätte jetzt einfach gehen können, aber zutiefst verunsichert wie sie durch die Situation war, hatte sie das Gefühl, dass er jetzt gehen musste, weil es sonst nach Flucht aussah. Außerdem sah der von ihr niedergestreckte Mann so lädiert aus, dass sie sich auch nicht ganz sicher war, ob sie nicht vielleicht sogar bleiben musste. Trotz des Regens trug er seine schwarze Lederjacke offen und nur der dünne Stoff seines weißen T-Shirts hatte ihren Schlag ein wenig abgemildert. Nach einigen Sekunden der Stille schob sie den ausziehbaren Schlagstock, den sie seit einem Vorfall mit einem schizophrenen Besucher im Café immer bei sich trug, zusammen und fragte noch immer aufgebracht:
„Warum verfolgen Sie mich?“
„Wie kommen sie darauf, dass ich Sie verfolge?“, entgegnete Spicy noch immer nach Luft schnappend und bemühte sich, einen vorwurfsvollen Ton in die Gegenfrage zu legen, um sie glaubwürdiger klingen zu lassen.
Marit schnaufte und dachte angestrengt nach, was sie jetzt tun sollte. Der Schreck über ihre eigene brutale Vorgehensweise verstellte ihr für einen Moment den Blick dafür, dass seine Reaktion durchaus nicht glaubwürdig war. Wenn sie mit ihrer Vermutung wirklich falsch gelegen und ihre Attacke einen völlig Unschuldigen niedergestreckt hätte, dann hätte der wohl eher mit einem ‚Was fällt Ihnen ein?‘ seiner Empörung Luft gemacht. Doch für diese Erkenntnis klopfte ihr Herz zu stark und statt ihn zum Teufel zu jagen, fragte sie daher nur scharf:
„Etwa nicht?“, noch nicht ganz bereit, ihn zu rehabilitieren, aber doch schon soweit, ihn mit einer Erklärung davonkommen zu lassen.
„Nein, bestimmt nicht!“, antwortete Spicy auf die gleiche nur mäßig überzeugende Art wie zuvor, dann setzte er hinzu:
„Ich war auf dem Weg nach Hause.“
„Na dann...“, entgegnete Marit, unschlüssig ob jetzt eine Entschuldigung angebracht war, denn ihr Unterbewusstsein war von seiner Unschuld keineswegs überzeugt. Doch dieser Mann dort schien ganz offensichtlich keine Gefahr mehr darzustellen, Schuldfrage hin oder her. Sie entschloss sich zur Nachsicht und reichte Spicy die Hand, um ihm aufzuhelfen. Und so ergab sich die seltsame Situation, dass sie zwar nicht wirklich an seine Version der Geschichte glaubte, aber keinerlei Konsequenzen daraus zog, sondern die Unterhaltung doch so weiterführte, als sei sie wahr und ihre Begegnung nur einem Zufall geschuldet.
„Was haben Sie da eigentlich für ein brutales Gerät?“, fragte er mit noch immer ein wenig schwacher Stimme und deutete auf den Schlagstock in ihrer Hand.
„Darf man sowas überhaupt mit sich herumtragen?“
Angriff war noch immer die beste Verteidigung, dachte er, zumindest wenn der Gegner sich schon auf dem Rückzug befand. Doch in diesem Fall hatte er sich getäuscht.
„Doch, dass darf ich“, sagte Marit bestimmt und nahm ihre Waffe noch einmal fest in die Hand, um zu demonstrieren, dass sie sie auch noch einmal benutzen würde, bevor sie sie zurück in ihre Handtasche steckte.
„MeToo lässt grüßen, oder?“, bemerkte Spicy etwas vorsichtiger und Marit nickte bestimmt, doch dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie schaute sich kurz in beide Richtungen um und fragte dann:
„Wo wohnen sie denn eigentlich?“
„Kirchstraße“, log Spicy mit einer vagen Handbewegung nach vorn, „Und Sie?“
Marit zögerte kurz, bevor sie antwortete:
„Bahnhofsring.“
Spicy sah sie verständnislos an, denn der Bahnhofsring lag vom Hauptbahnhof aus gesehen in der anderen Richtung, so dass sie sich zu einer Erklärung genötigt sah.
„Na ja, ich bin hier ins Viertel gelaufen, um Sie abzuhängen, ist doch wohl logisch, oder?“
„Und dabei haben Sie zufällig genau meinen Weg genommen. Das ist ja ein Ding!“, bekräftigte Spicy noch einmal seine Version der Geschichte und lächelte nunmehr beseelt zurück, glücklich, dass sie bereit war, ihm zu vertrauen.
„Darf ich Sie noch auf ein Bier einladen?“, fragte er offenherzig, doch Marit schüttelte skeptisch den Kopf.
„Wie soll das denn funktionieren, die Kneipen haben doch alle zu“, sagte sie mit etwas spöttischer Stimme und machte damit gleichzeitig klar, dass sie einer Einladung in seine Wohnung auf gar keinen Fall zustimmen würde.
„Da haben Sie leider wohl Recht“, antwortete Spicy und die Enttäuschung war seiner Stimme deutlich anzuhören.
„Na dann, auf Wiedersehen“, verabschiedete er sich, ohne sich zum Gehen abzuwenden.
„Tschüss. Vielleicht treffen wir uns ja mal irgendwo“, erwiderte Marit seinen Gruß und machte kehrt, um zurück zum Bahnhof zu gehen. Spicy setzte sich langsam, fast unwillig, in entgegengesetzter Richtung in Bewegung, seine Brust schmerzte und außerdem gab es keine Haustür, in die er ordnungsgemäß hätte einkehren können. Nach einigen Metern blieb er stehen und schaute sich noch einmal nach ihr um. Und tatsächlich hatte auch die unbekannte Schöne, die jetzt nicht mehr ganz so unbekannt war, den inneren Drang verspürt, noch einmal einen Blick zurück über die Schulter zu werfen, und dabei ertappten sie sich, schauten sich – zwar über eine beträchtliche Distanz, doch lachend - in die Augen und er hob noch einmal die Hand zum Gruß.
Glücklicherweise war sie um die nächste Straßenecke gebogen, bevor er das Ende der Kirchstraße, die nur etwa Hundert Meter lang war, erreicht hatte. Dort setzte er sich auf den Pfosten eines Gartenzauns, noch immer mit Schmerzen, aber so beseelt, so leicht, wie er sich noch nie gefühlt hatte.
Er saß so lange dort, bis er sah, dass auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorsichtig ein Vorhang um wenige Zentimeter zur Seite geschoben wurde, und ihm bewusst wurde, wie seltsam seine Anwesenheit in der intimen Enge der Straße wirken musste, erst recht angesichts des beständigen Nieselregens, der noch immer nicht aufgehört hatte und den Spicy inzwischen bis auf die Haut spürte. Er lächelte freundlich zu der Gardine hinüber, dann machte er sich mit einem tiefen Seufzer auf den Heimweg.
*
Anna war damit beschäftigt, ihrem Vater in der Küche des Restaurants beim Gemüseschneiden zu helfen, als Marit endlich mit ihren Einkäufen vom Wochenmarkt zurück in die Wohnung kam. Vollkommen in Gedanken versunken, machte sie sich daran, die Vorräte in den Schränken zu verstauen, und warf zwischendurch einen Blick auf die Leere der Straße vor dem Fenster, doch die Ödnis schaffte es trotz des einheitlich grauen Himmels nicht bis in ihr Bewusstsein. Sie blieb mit einem Bund Möhren in der Hand am Fenster stehen und lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Ihr Herz klopfte noch immer spürbar, hatte allerdings den wilden Schlag panischer Angst, zu der sich ihre Unruhe ausgewachsen hatte, als der schwere Stiefelschritt in ihrem Rücken nicht verschwand, soweit verlangsamt, dass er nicht mehr in der Kehle trommelte, sondern nur noch dumpf in der Magengrube zu spüren war. Dem Adrenalinstoß war Erschöpfung gefolgt, die sie jetzt erst richtig zu spüren begann.
Eigentlich hätte sie schon allein deshalb wütend auf ihn sein müssen, weil die Angst in ihr das Gefühl hinterlassen hatte, einmal komplett durch den Fleischwolf gedreht worden zu sein. Doch tatsächlich drang kein wie auch immer geartetes Gefühl des Widerwillens in ihre Seele, stattdessen machte sich dort ein sanftes Wohlbefinden bemerkbar. Wer konnte dieser Tage schon mit Überzeugung von sich behaupten, er habe interessante Begegnungen gehabt? Vielleicht hätte sie doch mit ihm gehen sollen? Statt jetzt hier allein in der Küche zu sitzen?
‚Verpasste Chance‘, dachte sie ein wenig wehmütig.
Sie wandte sich vom Fenster ab und ließ sich auf einen der Küchenstühle sinken. Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild der Kirchstraße im Regen, in