„Unheil, Franz?“
„Allerdings,“ nickte dieser, „denke Dir nur, wenn ein leicht exaltirtes und überhaupt schwärmerisches Wesen wie Selma solche Dinge mit solcher Beredsamkeit vorführen hört, so sind die Folgen ganz unberechenbar, und wenn sie auch nicht gerade selbst aufpackt und als Missionärin hinauszieht, so wird sie doch auf Jahre nichts weitere im Kopfe haben, als Strümpfe für barfüßige Heidenkinder zu stricken, Röcke zu nähen oder Sammlungen zu veranstalten, und damit eine ganze Nachbarschaft unbehaglich machen.“
„Und thäte sie damit nicht ein gutes Werk, Franz?“
„Bah, fang Du nicht etwa auch noch an, Bäschen,“ sagte der Vetter, „meine Meinung ist, daß wir jenen sogenannten „blinden Heiden“ einen viel größeren Gefallen thäten, wenn wir sie ruhig und zufrieden ließen, eingeladen haben sie uns wahrhaftig nicht, um zu ihnen zu kommen.“
„Alle Wetter, Kinder,“ sagte in diesem Augenblick der Freiherr, der eine kurze Strecke mit dem Verwalter zurückgeblieben war, um Einiges mit ihm zu besprechen, und sich jetzt den beiden jungen Leuten wieder anschloß, „hat unser geistlicher Herr von der Mission aber ein Mundwerk am Kopfe. Allen Respect; der kann wahrlich das Blaue vom Himmel herunterreden, und mir ist ein paar Mal selber, wie er von den Kindermorden sprach und sie beschrieb, siedendheiß dabei geworden. Es geht doch eigentlich wunderlich in der Welt zu, und wir, die wir hier in vollkommen geregelten Verhält-/34/nissen sitzen und darin aufgezogen sind, merken gar nichts davon und wissen noch viel weniger darüber."
„Ich bin fest davon überzeugt, daß er furchtbar übertrieben hat," sagte Franz.
„Ich weiß nicht," meinte der Freiherr achselzuckend; „weshalb sollen solche Sachen nicht vorgekommen sein und vielleicht noch vorkommen? Möglich ist's immer, und es bleibt nur die Frage, ob die Missionäre das ändern können. Das Land ist weit, und überall können sie doch nicht sein. Heut Abend muß er uns übrigens erzählen, bei welcher Gelegenheit er den Hieb über den Kopf bekommen hat. Er scheint freilich nicht gern davon zu sprechen."
„Weshalb bist Du denn so still, Berchta?" fragte Franz seine schöne Begleiterin. „Fehlt Dir etwas?"
„Mir? nein," sagte das junge Mädchen, wie aus tiefen Gedanken auffahrend, „ich dachte nur eben über so Manches nach, was der Missionär heute gesprochen. Es ist doch eine vollkommen neue Welt, die uns da erschlossen wird und in die wir uns eigentlich erst hineinleben müssen."
„Ich sehe dafür die Nothwendigkeit gar nicht ein, mein schönes Bäschen," erwiderte Franz, „wir Alle haben dort gar nichts zu thun und zu suchen, und wenn wir uns mit der Verbesserung und Veredelung unserer Mitmenschen ernstlich beschäftigen wollten, glaube ich, fänden wir daheim hinreichende Arbeit. Zehn gegen Eins, unser Missionär zieht durch seine heutige Predigt aus Rothenkirchen und der Nachbarschaft ein Capital heraus, das unseren Armen hier weit besser zu statten gekommen wäre und jetzt zu einer Verwendung, über die wir gar keine Controlle haben, in fremde Länder wandert."
„Du könntest Recht haben, mein Junge," sagte der alte Freiherr, „denn ich selber bin willens, dafür zu zeichnen; aber wer weiß denn, welchem armen Teufel mit brauner Haut die Sache zu Gute kommt, und ob sie's dort nicht eben so nothwendig und vielleicht noch viel nothwendiger gebrauchen, als wir hier. - Aber da sind wir, und ich muß Dir gestehen, daß ich hungrig geworden bin. Johnson wird wahrscheinlich unten beim Geistlichen essen."
„Der sieht mir gar nicht danach aus," meinte Franz, /35/ als ob er heute Mittag überhaupt etwas essen würde. Wie der Jäger auf seine Beute, ist er hinter seinen Opfern her, und was er aus ihnen zum Besten seiner braunhäutigen Pflegekinder herausdrücken kann, thut er gewiß."
Die Unterhaltung war damit für jetzt abgebrochen, drehte sich aber später bei Tisch doch nur wieder einzig und allein um den Gegenstand der Missionen - ein Beweis mehr, wie gewaltig der fremde Geistliche verstanden hatte das Interesse der Zuhörer zu fesseln und ihre Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen. Berchta aber blieb ziemlich einsilbig und schützte bald darauf Kopfschmerzen vor, mit denen sie sich auf ihr Zimmer zurückzog.
Johnson kehrte übrigens an dem Abend gar nicht wieder nach dem Schlosse zurück und hatte nur einen Boten hinaufgesendet, um ihn zu entschuldigen. Er war so von den Leuten unten in Anspruch genommen, daß er sich nicht losreißen konnte oder wollte. Was lag dem Manne auch an häuslichen Bequemlichkeiten, der nur mit eiserner Consequenz sein einmal vorgestecktes Ziel verfolgte!
Und der Erfolg war wirklich für einen so kleinen Ort ein außerordentlicher; denn nicht allein, daß seine dort gleich auf dem Platz angestellte Sammlung reicher ausfiel, als in mancher großen Stadt, nein, es gelang ihm auch, einen „Frauenverein" zu gründen, der diese Sammlung sowohl fortzusetzen versprach, als sich auch bereit erklärte, dafür zu sorgen, daß nur alle erdenklichen Bedürfnisse für die Eingeborenen angefertigt oder von anderen Orten erbeten würden. Später sollten sie dann an eine von Johnson aufzugebende Adresse befördert und den „armen Heiden" zugesendet werden, und man beschloß zuletzt noch, das „gnädige Fräulein" zu ersuchen, die Präsidentenstelle in diesem Verein zu übernehmen.
Am nächsten Morgen suchte sie Johnson selber auf, um sie darum zu bitten, und fand sie, als er sich bei ihr anmelden ließ, allein in ihrem Zimmer. Berchta versprach auch mit Freuden seinen Wunsch zu erfüllen, und konnte ihm dabei nicht verhehlen, wie tief sie von seiner gestrigen Rede ergriffen sei, und wie sehr ihr am Herzen liege, das Wenige, /36/ was sie selber im Stande sei zu leisten, zur Förderung des schönen Werkes beizutragen.
„Mein gnädiges Fräulein," erwiderte der Missionär, und ein eigener, wenn auch unmerkbarer Zug von Bitterkeit umzuckte seine Lippen, „wir Alle sind wirklich im Stande, das Höchste zu leisten, wenn wir nur auch den festen Willen dazu haben; aber wir finden es gewöhnlich weit bequemer, uns mit der Unmöglichkeit zu entschuldigen. Viele werden freilich berufen, aber Wenige sind auserwählt, und den wenigen Auserwählten gehört dann das Himmelreich."
„Ich verstehe Sie nicht," sagte Berchta scheu.
„Es ist schon dankenswerth, mein gnädiges Fräulein," wich aber der Geistliche aus, „daß Sie sich in Ihrer Stellung so weit herablassen, an der Sache armer, freundloser Missionäre in fremden Welttheilen durch eine Form, wie hier der Vorsitz eines Frauenvereins ist, oder selber durch freundliche Gaben sich zu betheiligen. Wir könnten wirklich gar nicht mehr von Ihnen verlangen."
„Und ist das Ihr voller Ernst?" sagte Berchta und sah dabei den Geistlichen fest und forschend an. „Sprechen Sic jetzt - wie Sie es gewohnt sein müssen - die reine, lautere Wahrheit?"
„Wir dürfen wenigstens nicht mehr verlangen," erwiderte Johnson, „wenn Ihnen das aufrichtiger klingt."
„Und weshalb nicht?" rief Berchta rasch. „Trauen Sie mir weniger Muth, weniger Aufopferungsfreudigkeit zu, als sie andere Frauen bewiesen haben?"
„Mein gnädiges Fräulein," sagte der Missionär, „wir selber wissen nie, was wir uns zutrauen dürfen oder können, bis wir es nicht auch an uns selber erprobt haben. Oft ist der Geist wohl willig, aber das Fleisch schwach, und mancher selbst starke Geist sinkt nachher unter der Wucht der Wirklichkeit zu Boden und verzagt."
„Und trauen Sie mir das zu?"
„Möge Sie Gott nie auf so harte Probe stellen," sagte der Missionär, leicht und wehmüthig das Haupt neigend, „und nicht allein Ihret-, sondern auch der Ihrigen wegen, denn es ist schwerer fast, da Zeuge zu sein, als es selber zu tragen." /37/
„Und waren Sie einst Zeuge eines solchen Leides?" fragte Berchta bewegt, denn der sonst so ruhige Mann mit den eisernen Zügen schien heftig erschüttert.
„Ja," flüsterte Johnson, fast mehr mit sich selber, als zu der Jungfrau sprechend, „ich war Zeuge, wie ein junges, liebes Leben langsam dahinwelkte, und - mußte dann später trotzdem noch Gott danken, daß er sie früher zu sich genommen. ehe sie das Furchtbarste erlebte."
„Das Furchtbarste?"