Ernest? Hieß so nicht der Bürgermeister dieses Dorfes?
Die halb zerfallene Mauer, die das Restaurant mit dem benachbarten Haus auf der anderen Seite verband, brachte sie zum Staunen. Die Unregelmäßigkeiten zwischen gepflegten und vernachlässigten Gemäuern irritierten sie. Diese Mauer endete mit einem Stacheldraht am oberen Rand, womit verhindert wurde, dass jemand drüber kletterte. Ein verrostetes Tor bezeugte, wo früher mal der Eingang gewesen war. Sabine rüttelte daran, aber es ließ sich keinen Millimeter verschieben.
Was verbarg sich dort? Das musste sie unbedingt wissen.
Durch die Gitter des Tores blickte sie auf die Äste einer Eiche, die bis auf wenige rostbraune Blätter vom Herbstwind kahlgefegt worden war. Mit ihrem dicken Stamm und den knorrigen Ästen hob sie sich bedrohlich vom dunklen, regenschweren Himmel ab. Runensteine ragten verstreut aus hohem, wild gewachsenem Gras und Efeu empor. Jahrhunderte von Wind und Regen hatten auf ihnen Spuren hinterlassen. Die Beschriftungen waren verwittert und kaum lesbar. Eingefasst wurden sie von niedrigen Steinmauern der Umfriedung.
Ein alter, vernachlässigter Friedhof lag dort vor ihr. Ein Schaudern überlief sie. Dort würde sich Annabel bestimmt nicht aufhalten. Die linke Seite des verwahrlosten Areals grenzte an den baufälligen Schuppen, den sie ergebnislos nach ihrer Tochter abgesucht hatte. Sie wollte sich wegdrehen, als ihr ein Mann in gebückter Haltung auffiel. Er legte Blumen auf eines der alten Gräber. Er bemerkte sie, erhob sich und drehte sich um. Dicke Brillengläser ließen seine Augen übergroß aussehen. Sabine erschrak. Seinen Mund verzog er abwechselnd zu einem Lachen und zu einer Kaubewegung. Kleine, vorstehende Zähne und dunkelrotes Zahnfleisch am Oberkiefer entblößten sich, Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln.
Sabine wollte weitergehen. Doch sie hielt inne. Warum sollte sein Aussehen ein Grund sein, diesen möglichen Augenzeugen nicht zu befragen?
„Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen? Es ist vier Jahre alt, hat lange blonde Haare, blaue Augen und trägt einen Jeansoverall.“
„Pauvre fille.“ Das Gesicht verzog sich augenblicklich zu einer traurigen Fratze. „Fille riche.“ Er zog eine lachende Grimasse und wandte sich ab.
Sabine war völlig außer sich. Mit diesem Kerl hatte sie nur Zeit verschwendet. Wie eine Irre rannte sie los, steuerte die Mitte der Dorfstraße an. Dort hatte sie den besten Überblick. Alles, was sich ihr auf der Suche nach ihrem Kind in den Weg stellen wollte, beachtete sie nicht. Autofahrer mussten zusehen, wie sie Sabine passierten, ohne sie umzufahren. Dabei schleuderte sie jedem die Frage nach ihrem Kind entgegen. Kaum begegnete ihr ein Mensch vor einem der Häuser oder an geöffneten Fenstern, keuchte sie: „Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?“ Doch immer nur erntete sie Kopfschütteln oder bedauernde Mienen. Also rannte sie weiter und weiter und weiter. Irgendwo musste ihr Kind doch sein. „Annabel.“, schrie sie immer wieder den Namen ihrer Tochter. Doch es kam keine Antwort.
Dunkelheit brach herein. Und mit ihr der Schrecken, der in Sabine immer größer wurde. Wie fühlte sich ihr kleines Mädchen jetzt? Annabel hatte Angst im Dunkeln. Sie hatte Albträume. Sie kroch immer zu ihrer Mutter ins Bett, weil sie ihren Schutz suchte. Und jetzt? Jetzt lag sie irgendwo allein und ungeschützt da und hatte niemanden.
Sabine brach in Tränen aus, rannte aber unbeirrt weiter.
Jemand steuerte direkt auf sie zu. Erschrocken bremste sie ab, riss die Augen weit auf und schaute in das zerfurchte Gesicht eines alten Mannes. Seine Haltung war leicht gebückt. Er grinste. Sollte er etwas wissen?
„François kann Ihnen nicht helfen“, sprach er hastig mit halb verschluckten Vokalen.
„Ich will nichts von François, ich will meine Tochter finden“, knurrte Sabine und wollte ihren Weg fortsetzen. Aber der Alte war noch nicht fertig. Die eine Hand stützte er auf seinen Stock, als sei er zu schwach, ohne diese Hilfe stehen zu können, doch seine andere Hand hinderte sie mit erstaunlicher Kraft daran, weiterzugehen. Sein Gesicht kam ihrem immer näher. Sie erkannte, dass nur noch ein einziger Zahn seinen Mund zierte.
„Gehen Sie nach Hause. Der Bürgermeister hat die Gendarmerie aus Straßburg benachrichtigt. Von dort ist jemand auf dem Weg hierher.“
„Nur ein Einziger kommt hierher, um meine Tochter zu finden?“
Der Alte nickte und fügte an: „Einer, der was davon versteht.“
Er humpelte auf seinen Stock gestützt davon. Erst jetzt nahm sie den Golden Retriever wahr, den der Alte ausführte. Auch der hatte seine besten Jahre schon lange hinter sich. Struppig, mit weißer Schnauze und krummen Beinen wackelte er hinter seinem Herrchen her.
2
Kriminalkommissarin Tanja Gestier hielt den Blick auf das gerötete Gesicht ihrer Tochter gerichtet. Dabei versuchte sie, sich das Handy zu schnappen, ohne dass Lara wieder einen ihrer Wutanfälle bekam. War vier Jahre bereits ein schwieriges Alter? Tanja wusste es nicht. Sie wusste nur, dass Lara ganz schön unangenehm werden konnte, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging. Sie konnte es kaum fassen, wie schnell die Zeit vergangen war, seit sie wusste, dass sie Mutter werden würde. Die Unsicherheit und die Angst, als klar war, dass dieses Kind niemals seinen Vater kennenlernen würde, hatten sie damals überwältigt. Ihre Befürchtungen, es niemals zu schaffen, hatten sie ihrer Vorfreude auf dieses Kind beraubt. Aber, wenn man musste, konnte man über sich hinauswachsen. Laras Vater Sebastian war im Einsatz von einer Kugel getroffen worden, die für Tanja bestimmt gewesen war. Sie waren nicht nur ein Ehepaar gewesen, sondern auch beruflich ein Team. Und dann hatte alles mit einem einzigen Knall geendet. Kaum hatte Tanja begriffen, dass Sebastian getötet worden war, erfuhr sie, dass sie ein Kind erwartete. Von der ersten Sekunde an hatte sie gewusst, dass sie das Kind behalten und über alles lieben würde. Es war ein Teil von Sebastian. Auch war ihr klar gewesen, dass es nicht leicht würde, beide Elternrollen zu übernehmen. Doch wie schwierig es schließlich wirklich war, darauf hätte sie sich nicht vorbereiten können.
Gerade jetzt spürte sie, dass sie dieser Doppelrolle nicht immer gewachsen war.
Noch war Laras Lachen unbekümmert. Wer wusste, wie lange …
Das Handy dudelte unaufhaltsam „Riders on the Storm“ von den Doors. Tanjas Beruf als Kriminalkommissarin ließ sich nicht so einfach mit ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter unter einen Hut bringen. Trotzdem übte sie ihren Beruf weiterhin mit Leidenschaft aus, wobei sie sich selbst einredete, dass Sebastian es so gewollt hätte. Aber sie konnte nichts anderes. Sie liebte den Job, obwohl er sie schon viel gekostet hatte. Und immer noch kostete, denn im letzten Jahr war die leidige Tatsache hinzugekommen, dass ihr Stiefvater die Leitung der Abteilung übernommen hatte, in der sie arbeitete. Der Mann, der ihre Doppelrolle als Mutter und Polizistin nicht guthieß. Seine ständigen Seitenhiebe nervten gewaltig. Aber das spornte Tanja nur noch mehr an.
Doch in Augenblicken wie diesem wurden die Schattenseiten ihres Lebens übermächtig. Tanja ahnte, dass ihre Dienststelle auf dem Handy anrief. Die Kollegen wussten, dass sie es ständig mit sich herumtrug. Endlich gelang es ihr, danach zu greifen. Kaum hatte sie es in der Hand, stieß Lara einen lauten Schrei aus, sodass Tanja nicht verstand, wer am anderen Ende der Leitung war. „Moment bitte“, rief sie und wandte sich zu ihrer Tochter mit der Bitte, sie möge leiser sein. Doch das half nichts. Im Gegenteil: Es wurde noch schlimmer.
„Gestier“, startete sie einen neuen Versuch, das Telefonat entgegenzunehmen.
„Ich bin‘s“, verstand Tanja endlich, nachdem Lara das Wohnzimmer verlassen hatte.
„Sabine?“ Tanja war nicht wenig überrascht. Sie kannten sich schon seit vielen Jahren. Durch ihre gleichaltrigen Töchter war aus ihrer Bekanntschaft eine tiefe Freundschaft entstanden, weshalb dieser Anruf in Tanja sämtliche Alarmglocken schrillen ließ. Sabines hysterische Stimme brachte Tanjas Trommelfell fast zum Platzen. Sie wiederholte immer wieder: „Sie ist weg. Sie ist weg.“ Dann sprudelte eine Salve an Worten durch den Hörer an Tanjas Ohr, wie sie sie von ihrer Freundin noch nie gehört hatte. Nur mit Mühe konnte sie alles verstehen,