Dieses Mal zögerte ich keine Sekunde lange; ich sprang auf. Meine Augen huschten umher, ich griff mir den nächstbesten Ast, der auf dem Boden lag, bereit, mich meinem Gegner zu stellen.
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich keuchte und meine Finger umfassten das Stück Holz so fest, dass ich Angst hatte, es könnte brechen.
Ich erwartete, dass gleich ein Wilder oder so kommen würde; schlimmstenfalls eine Bestie.
Stattdessen sah ich plötzlich den Umriss einer Frau – ein Mensch? Gott sei Dank!
Ich war drauf und dran, meine Waffe fallen zu lassen und ihr um den Hals zu fallen. Dann bemerkte ich plötzlich, dass sie ebenfalls eine Waffe bei sich trug – einen eleganten, hölzernen Bogen, der beinahe die Länge ihres Körpers innehatte.
Und als sie in die sonnige Lichtung trat, sah ich, dass sie so ziemlich die schönste Frau war, die ich je gesehen hatte.
Ihr Gesicht vollkommen makellos; ihre Züge elegant. Sie war groß, größer als ich, mit einem athletischen, aber femininen Körperbau. Ihr langes Haar war rabenschwarz und so dicht wie ich es noch nie gesehen hatte. Bernsteinfarbene, mandelförmige Augen blickten mich an; umgeben von so dichten, schwarzen Wimpern, dass ich für einen Moment dachte, sie wären aufgeklebt.
Unwillkürlich ließ ich meinen Ast ein Stück sinken; dann fiel mir schlagartig ein, dass sie, auch wenn sie hammermäßig gut aussah, trotzdem gefährlich sein konnte. Immerhin hatte sie ihre Waffe noch nicht sinken lassen.
Ich konnte ihren Blick nicht ganz deuten; er schien leicht neugierig, allerdings wachsam. Ihre Augen huschten über mich hinweg; mir wurde peinlich bewusst, dass ich vollkommen verkratzt und voller Walddreck war.
Leichtfüßig trat sie ein paar Schritte näher. Sie legte den Kopf leicht schräg und musterte mich noch immer. Allmählich fühlte ich mich unwohl dabei.
“Ich habe Euch noch nie hier gesehen”, sagte sie schließlich.
Euch? “Ähm”, meine Antwort fiel natürlich wie immer ungeheuer geistreich aus.
Sie ignorierte mich und trat noch ein paar Schritte näher, den Pfeil weiterhin auf mich gerichtet. Dann ließ sie langsam den Bogen sinken. “Woher kommt Ihr?”
“Ich… ich weiß nicht was das… Euch angeht”, sagte ich und klang etwas aggressiv. Nordengland? Sagt dir das was? Oh, und übrigens, weißt du, wo diese krasse blutgetränkte, eisige Lichtung ist, wo der gestörte Riesenwolf herumläuft?
Sie hob leicht die Augenbrauen – die natürlich perfekt geschwungen waren -, und ihr Blick wurde misstrauisch. “Ihr seid ziemlich warm angezogen”, bemerkte sie. “Kommt Ihr aus dem Norden?”
Warm angezogen? Meinte sie meine Jogginghose?
Als ich nach unten blickte, bemerkte ich entsetzt, dass ich lange, elegante Stiefel und ganz andere Kleidung trug – meine sah ähnlich aus wie ihre. Aber sie hatte Recht: Meine Kleidung war vollkommen für den Winter ausgelegt.
Weil ich keine Ahnung hatte, was ich darauf antworten sollte, schnappte ich zurück: “Ich weiß wirklich nicht, was Euch das angeht. Wo ich herkomme, ist ganz alleine meine Sache.” Als sie nichts sagte, fügte ich hinzu: “Also… auf jeden Fall… gehe ich jetzt.”
Erst im Nachhinein fiel mir auf, dass das vermutlich eine bescheuerte Idee war. Falls wieder einer der Wölfe kommen sollte, war sie vermutlich die Einzige, die ihn töten konnte.
Nichtsdestotrotz wollte ich mich wegdrehen – und dann schwebte plötzlich eine Pfeilspitze direkt vor meinem Gesicht. Sie hatte so schnell reagiert, dass ich nicht einmal die Zeit gehabt hatte, zu blinzeln.
“Ihr geht nirgends hin.” Ihre Stimme war nicht mehr freundlich, sondern kühl – und drohend. “Jeder, der diesen Wald betritt, muss sich bei uns verantworten.”
Uns? Ich versuchte, möglichst unauffällig meine Augen über die – leere – Lichtung wandern zu lassen. “Ich bin nur auf der Durchreise”, war das Einzige, was mir einfiel.
Sie zuckte die Schultern. “Umso besser.”
Als ich nicht reagierte, spannte sie ihren Bogen ein wenig mehr.
Ich schluckte; ich sah ein, dass ich keine andere Wahl hatte, als in die von ihr angegebene Richtung zu gehen. Ich merkte, wie sie mir folgte; den Bogen nun gesenkt.
Ich ließ meinen Ast fallen; ich wusste nicht wirklich etwas damit anzufangen und sie war sowieso schneller als ich. Also ließ ich mich von ihr in den Wald hineinführen.
Sobald ich weg von der Lichtung war, spürte ich, wie mein Magen sich wieder zusammenzog. Meine Gedanken begannen prompt zu rasen.
Wo war ich? Würde ich wieder zurückgehen? Was würde ich Caro sagen? Was würde ich meinen Eltern erzählen? Würde ich all dies überhaupt mit jemandem teilen? Was war mit Melody? Würde ich nachher wieder Bilder von mir selbst geschickt bekommen? War dies ein Traum?
Und wer zur Hölle war diese Frau? Wieso war ich nun hier und nicht mehr in der blutgetränkten Eislandschaft? Was hatte all das zu bedeuten?
Naja, wenigstens war ich hier nicht alleine – auch wenn die einzige Person, die mir Gesellschaft leistete, mich gerade bedrohte.
Ich überlegte, ob ich ihr diese Fragen stellen sollte. Aber wenn ich ihr anvertraute, dass ich vor einer Stunde noch auf meinem Zimmerboden vor meinem Laptop gesessen war… irgendetwas sagte mir, dass ich lieber die Klappe halten sollte.
Schweigend liefen wir durch das Gehölz; Büsche und Bäume. Langsam wurde das Rauschen des Wassers lauter; wir steuerten anscheinend direkt auf dessen Quelle zu.
Gerade wollte ich fragen, wie lange es noch dauerte, bis wir am Ziel waren, als wir plötzlich durch die Bäume brachen.
Mir verschlug es den Atem.
Vor mir befand sich tatsächlich ein Wasserfall; er war gigantisch. Wild rauschend floss er ins Tal hinab, das so tief war, dass selbst die gigantischen Bäume kaum bis hier nach oben reichten. Wassertropfen glitzerten in der Sonne; es sah beinahe magisch aus.
Ich merkte, wie ich automatisch stehen geblieben war. Meine Augen huschten von einem Punkt zu dem Nächsten; versuchten hilflos, alles auf einmal einzufangen und in meinem Gedächtnis abzuspeichern. Von den gigantischen Bäumen, deren Wipfel ich beinahe berühren konnte, zu dem Wasserfall, der wenige Meter vor mir zwischen den glatt geformten Felsen heraussprudelte.
“Hier entlang.” Ihre Stimme war nicht mehr unfreundlich, aber weiterhin leicht kühl.
Ich stolperte weiter, in die Richtung, in der sie mich wies. Wir liefen auf den Wasserfall zu, der hinab ins Tal rauschte. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte ich mich, ob sie mich einfach dort hinab schubsen würde.
Auch wenn ich mich vermutlich mit der Geschwindigkeit einer Schnecke fortbewegte, konnte ich nicht anders, als zu versuchen, alles Mögliche einzufangen. Ich merkte, wie sich etwas in meiner Brust regte; ein seltsames Prickeln.
Wo sind wir? Die Frage lag mir auf der Zunge, aber ich wagte es nicht, sie laut auszusprechen.
Wir waren nun direkt oberhalb des Wasserfalls angekommen, nur wenige Meter entfernt vom Abgrund.
“Wartet hier”, sagte sie plötzlich.
Was, wenn nicht? Ich stellte die Frage gar nicht erst laut; ich wusste, sie war sinnlos. Die Frau würde mich einholen, bevor ich drei Schritte gemacht hatte.
Auch wenn ich am liebsten in das Tal hinab gesehen hätte, ließ ich meinen Blick nicht von ihr los. Sie verschwand zwischen den Bäumen, die hier oben wuchsen. Ich wurde ein wenig nervös und fragte mich, was jetzt passierte.
Auf einmal hörte ich noch andere Stimmen; tiefere Stimmen. Männliche Stimmen. Mein Magen zog sich zusammen. Ich fuhr mir über die Lippen, die vollkommen ausgetrocknet waren.
Nun, wenigstens