Er versuchte mir, eine Brücke zu bauen, aber ich schüttelte den Kopf.
„Nein, Don Remigio, ich denke seit Stunden darüber nach und bin mir völlig sicher, der capellà, den ich zusammen mir Álvaro auf der Straße ausgemacht habe, war dem Raben, wie ich ihn von den Fotos her kenne, so ähnlich, daß man denken mußte, er selbst in höchst eigener Person wäre es gewesen. Älter selbstverständlich als auf den Bildern, aber es waren unverwechselbar dieselben markanten Gesichtszüge. Glauben Sie mir, Senyores, ich bin mir so sicher, wie man es nur sein kann. Absolut.
Natürlich weiß auch ich, daß es nicht Don Xavier gewesen sein kann, den ich gesehen habe. Dann war es eben ein Zwillingsbruder, von dessen Existenz wir bislang noch nichts wußten oder sonst ein naher Verwandter, was weiß denn ich? Bei den Bildern, die ich Ihnen zeigte, dachten Sie zunächst ja ebenfalls, ich wäre darauf abgebildet, in Wirklichkeit handelte es sich um meinen Großvater. Vermutlich jedenfalls. Aber die Ähnlichkeit mit meiner Person verblüffte Sie doch schon, geben Sie es ruhig zu. Warum sollte der capellà, den ich in Begleitung Álvaros gesehen habe, nicht ein naher Verwandter des Raben gewesen sein?“
„Das Einfachste wäre natürlich, Álvaro zu befragen, mit wem er denn in Palma ein so intensives Gespräch geführt hat“, warf Don Basilio ein, „allerdings birgt diese Befragung ein gewisses Risiko in sich. Vielleicht ist alles ganz harmlos und klärt sich nach wenigen Sätzen in Wohlgefallen auf. Vielleicht aber ist unser Verdacht, bei Álvaro handele es sich um einen Spion des bisbe, berechtigt. Dann haben wir einen Trumpf zu früh ausgespielt, er verpufft, die Gegenseite ist gewarnt und kann entsprechende Maßnahmen gegen uns ergreifen. Oder für ihre Sache, ganz wie Sie wollen.“
„Basilio hat recht, auch wenn ich es ungern zugebe“, sagte Don Remigio, „Álvaro mag zwar etwas ahnen, aber er weiß nicht, was wir wissen. Das macht ihn unsicher und wer unsicher ist, begeht früher oder später unweigerlich einen Fehler. Lassen Sie uns überlegen, was wir unternehmen können, um die Identität des Unbekannten festzustellen und was der Chauffeur nun tatsächlich mit der ganzen Angelegenheit zu tun hat. Du, Basilio, hast doch eine persönliche Verbindung zum bischöflichen Palais, deren du dich immer rühmst, wenn du einen über den Durst getrunken hast. Laß uns doch mal herausbekommen, was dieser Kontakt wirklich wert ist.“
„Ein Studienkollege aus meiner Zeit in Barcelona“, erklärte der Angesprochene, „er hat Karriere gemacht und bekleidet jetzt eine höhere Position im Sekretariat des bisbe. Wir verstehen uns gut, ich werde ihn unter einem Vorwand in Palma aufsuchen. Wenn er etwas weiß, wird er es mir sagen. Andererseits würde ich mir keine allzu großen Hoffnungen machen. Wißt ihr eigentlich, wie viele Kirchen es auf unserer Insel gibt und wie viele pares dort die Glocken läuten oder sonstwie ihr Wesen treiben? Die kann man beim besten Willen nicht alle von Angesicht kennen. Aber, zugegeben, ein Versuch ist es allemal wert.
Im Übrigen war ich heute Vormittag, wie verabredet, im oficina de correus und habe mich einmal nach größeren Sendungen für die Marrascas erkundigt. Der Vorsteher schuldet mir noch den ein oder anderen Gefallen und war bereit, während der migdiada einmal in die alten Bücher zu schauen. Und tatsächlich, der Rabe hat bis zu seinem Tod etwa zweimal pro Jahr eine größere Sendung bekommen, deren Absender die Buchhandlung Iniesta i fill in Palma war. Nach seinem Tod hat seine Witwe Dona Maria weiterhin Bücher aus dieser Buchhandlung bezogen, allerdings in deutlich geringerem Umfang und nur noch unregelmäßig, nämlich höchstens alle zwei Jahre einmal. Seit etwa fünf Jahren kam dann gar nichts mehr. Da ich nun schon einmal auf dem Postamt war, habe ich versucht, bei der Buchhandlung in Palma anzurufen, was trotz mehrerer Versuche aber leider nicht gelungen ist, denn sie existiert nicht mehr, ist vor eben diesen fünf Jahren geschlossen worden. Immerhin wissen wir jetzt mit einiger Sicherheit, woher der Rabe seine Bücher bezogen hat. Was wir nicht wissen ist, warum er die Ausgaben dafür nicht auch als solche aufgeführt hat, wo er doch sonst so penibel in seinen Aufzeichnungen war.“
„Nun gut, ich denke, wir sind zu keiner Zeit davon ausgegangen, daß Don Xavier die Bücher gestohlen hatte. Das wissen wir jetzt mit einiger Wahrscheinlichkeit. Mehr aber auch nicht. Also sind wir mit der Auskunft auch nicht wesentlich weiter gekommen. Interessant wäre es zu wissen, auf welchem Weg er sie bezahlt hat. Aber auch in diesem Punkt kommen wir nicht weiter. Die Buchhandlung existiert nicht mehr, einen Nachkommen des Buchhändlers Iniesta, der sich zudem noch daran erinnern kann, werden wir kaum auftreiben. Diese Strecke müssen wir wohl abhaken, sie hat uns nichts gebracht“, sagte ich enttäuscht.
Doch Don Basilio schüttelte den Kopf.
„Geben Sie nicht so schnell auf, Don Diego. Auch wenn es harmlos daherkommt, welche Gefahr geht schon von Büchern aus, bleibt immer noch die Frage offen, wie er sie bezahlt hat, mit welchem Geld und woher er es hatte, das Geld. Ich spüre, daß an dieser Stelle etwas nicht so ist, wie es zu sein hat.“
„Ehe wir uns die Köpfe über derzeit nicht zu klärende Dinge zerbrechen, sollten wir uns vielmehr an das halten, was direkt vor unseren Nasen steht: an die Bücher nämlich. Sie haben in der letzten Nacht ja schon mit dem Werk begonnen, Don Diego. Auch, wenn die Ausbeute mit dem Fischartikel ein bißchen mager ausgefallen ist, der Weg war der richtige. Also lassen Sie uns doch die Bibliothek gründlich unter die Lupe nehmen. Irgendwo muß ein Hinweis herumliegen. Sechs wache Augen sehen mehr als zwei müde, das ist ein Naturgesetz. Wer immer auch dafür verantwortlich zeichnet.“
Also sprach Don Remigio und wir machten uns an die Arbeit.
Während ich dort weitersuchte, wo ich in der Nacht zuvor aufgehört hatte, nämlich bei den gebundenen Ausgaben der Gartenlaube, nahm sich Don Remigio das darauf folgende Regal und sein pare das dann nächste vor. Eine ganze Weile waren keine anderen Geräusche zu hören als jene, die Bücher machen, wenn sie aus ihrem angestammten Platz im Regal gezogen, ihr befreites Ächzen, wenn sie nach endlos langer Zeit der Ruhe wieder aufgeschlagen und durchblättert, sowie der enttäuschte Hall der Buchdeckel, wenn sie nach kurzer Durchsicht wieder zugeklappt werden. Der Staub unzähliger Jahreszeiten hatte sich auf den Schnittkanten niedergelassen und tanzte nun aufgeschreckt im Kerzenlicht umher.
Mir war, als röche es nach betagtem Papier, Leder, ausgetrocknetem Leim, Druckfarbe und der Kunstfertigkeit einstiger Buchmacher. Diese Gerüche waren mir bisher nie aufgefallen, wenn ich mich in der Bibliothek aufgehalten hatte und es war deshalb gut möglich, daß ich sie mir nur einbildete. Aber was spielte es für eine Rolle, ob diese Ausdünstungen, die meine Sinne zu spüren meinten, in der Realität oder nur in meiner Vorstellung vorhanden waren? Es zählten ausschließlich der Augenblick und die Stimmung, die er hervorrief. Ein Glas Wein vor der malerischen Kulisse eines Sonnenuntergangs in angenehmer Begleitung genossen schmeckt ja bekanntlich auch anders als bei Schnee und Regen in einem grauen Zimmer, obwohl es der gleiche Wein ist.
Als ich die Schilder der Buchrücken überflog, mußte ich mir eingestehen, einen Großteil der Verfasser nicht einmal dem Namen nach zu kennen. Natürlich waren hier überwiegend spanische Autoren versammelt und unter diesen lag der Schwerpunkt wiederum bei denen, die ihre Texte in katalanischer Sprache verfaßt hatten. Namen wie Miquel Costa i Llobera, Joan Alcover, Miquel dels Sants oder Gabriel Alomar hatte ich bewußt noch nie gehört und ich nahm mir deshalb fest vor, mich in naher Zukunft mit ihnen oder besser, mit ihren Werken zu beschäftigen. Ich betrachtete es einfach als eine Frage der Achtung und des Anstands, sich mit der Kultur des Landes zu befassen, in dem man lebte. Ganz besonders, wenn es nicht das Land der eigenen Herkunft, das Land, in dem man geboren wurde, war. Und wo schlagen sich Wesen und Leben eines Volkes besser nieder als in seiner Literatur?
Dann stieß ich auf Santiago Rusinol, den großen katalanischen Schriftsteller, Maler und Theaterautor, den ich kannte und von dessen Tod ich vor Kurzem in der Zeitung gelesen hatte. Obwohl kein Mallorquiner, hat er der Insel mit seinem Buch L’illa de la calma, Insel der Ruhe, eine wunderbare Hommage geschrieben, die ich während meines ersten Aufenthalts auf Mallorca gelesen hatte. Einigermaßen getröstet, wenigsten einen Namen unter den vielen Unbekannten identifizieren zu können, zog ich die Erstausgabe dieses Werkes von 1922 aus dem Regal und blätterte darin, als in meinem Rücken Don Basilios einen erstaunten Ausruf ausstieß.