Geschöpfe vor deinem Angesichte. Sprich du allein zu mir!. Je mehr einer mit sich selbst eins geworden ist, je einfacher er in seinem Inneren
geworden ist, desto mehr und desto Höheres erkennt er ohne Mühe, weil er von oben
her das Licht der Erkenntnis empfängt. Ein lauterer, gerader und beharrlicher Geist
verliert beim Hochbetrieb nicht seine Sammlung, weil er alles zur Ehre Gottes tut und bestrebt ist, in Ruhe alle Eigensucht auszuschalten. Wer behindert und belästigt
dich mehr als die unertötete Begier deines Herzens? Der gute, fromme Mensch überdenkt
zuerst in seinem Inneren die Werke, die er nach außen zustande bringen muß. Darum
ziehen ihn die Arbeiten auch nicht ins Sündhafte und Triebhafte, vielmehr gibt er
selber den Neigungen die dem Urteil der gesunden Vernunft entsprechende Richtung.
Wer hat einen härteren Kampf zu kämpfen, als wer sich selbst zu besiegen trachtet?
Und gerade das sollte unser Grundanliegen sein: uns selbst zu besiegen, täglich in der
Selbstbeherrschung zu wachsen und so im Guten irgendeinen Fortschritt zu machen.
Allem Vollkommenen haftet in diesem Leben Unvollkommenes an, und all unser
Denken ist nicht frei von einem gewissen Dunkel. Die demütige Selbsterkenntnis
geleitet dich sicherer zu Gott als die tiefe wissenschaftliche Forschung. Die Wissenschaft verdient keinen Tadel, auch nicht das schlichte Wissen um die Dinge.
Diese sind in sich betrachtet gut und gehören der göttlichen Ordnung an. Aber ein
gutes Gewissen und ein Leben der Tugend verdienen immer den Vorzug. Weil jedoch
die meisten mehr auf das Wissen als auf ein tugendhaftes Leben bedacht sind, geraten sie oft in die Irre und zeitigen fast keine oder nur geringe Frucht. Wenn sie doch ebenso viel Fleiß aufbrächten, ihre Fehler auszurotten und Tugenden einzupflanzen,
als gelehrte Fragen aufzuwerfen, es gäbe nicht so große Mißstände und Ärgernisse im
Volke und nicht so viel Zerfall in den Klöstern.
Bestimmt werden wir am kommenden Gerichtstage nicht gefragt werden, was wir
gelesen, sondern was wir getan haben, und nicht, wie schön wir geredet, sondern wie
gut wir gelebt. haben. Sage mir: Wo sind denn alle jene Herren und Meister, jene
Leuchten der Wissenschaft, die du, als sie noch lebten, so gut gekannt hast? Schon
sitzen andere auf ihren Pfründen, und ich weiß nicht, ob diese ihrer noch gedenken.
Zu ihrer Zeit schienen sie etwas zu bedeuten, und nun ist es still um sie geworden.
Wie schnell verrauscht der Ruhm dieser Welt! Hätte doch ihr Leben zu ihrer
Gelehrsamkeit gepasst, dann hätten sie gut studiert und gelehrt.
Wieviele gehen in dieser Welt an ihrem eitlen Wissen zugrunde! Sie kümmern sich
zu wenig um den Dienst Gottes. Sie wollen lieber bedeutend als demütig sein; darum
"schwinden sie dahin samt ihrem Denken" (Röm 1,21). Wahrhaft groß ist, wer große
Liebe hat. Wahrhaft groß ist, wer in seinen eigenen Augen klein ist und alle
Ehrenbezeugungen für nichts achtet. Wahrhaft klug ist, wer "alles Irdische für Unrat
hält, um Christus zu gewinnen" (Phil 3,8). Ein wirklicher Gelehrter ist, wer Gottes
Willen tut und auf seinen eigenen Willen verzichtet.
Achtsamkeit beim Handeln
1. Glaube nicht alles, und erzähle nicht alles.
2. Überlege mit Ruhe, und lasse dir raten.
1. Glaube nicht jedem Worte, und traue nicht jeder Eingebung. Prüfe vielmehr die
Dinge vor Gott, behutsam und mit der nötigen Ruhe. Leider geschieht es oft, dass wir
von andern lieber das Böse glauben und erzählen als das Gute; so schwach sind wir.
Doch vollkommene Menschen glauben nicht so leicht jedem Schwätzer. Denn sie
kennen die menschliche Schwäche, die zum Bösen neigt und im Reden leicht zu Falle
kommt.
2. Es ist eine tiefe Weisheit, nicht übereilt zu handeln und nicht an seiner eigenen
Meinung starrköpfig festzuhalten. Dazu gehört auch, daß man nicht irgendwelcher
Rederei Glauben schenkt und das, was man etwa gehört und geglaubt hat, nicht
gleich anderen Leuten weitererzählt. Berate dich mit einem klugen und
gewissenhaften Mann, und lasse dich lieber eines Besseren belehren, statt deinen
Einfällen zu folgen. Ein gutes Leben macht den Menschen weise vor Gott und
erfahren in vielen Dingen. Je demütiger ein Mensch ist und je vollkommener er sich
Gott unterwirft, um so weiser wird er sein und um so reicher an Frieden.
Das Lesen der heiligen Schriften
1. Achte mehr auf den Inhalt als auf die Form.
2. Lies nicht als Wissender, sondern um zu lernen.
1. Suche Wahrheit in den heiligen Schriften, nicht den Glanz der Rede. "Jedes heilige
Buch muss in dem Geist gelesen werden, in dem es verfasst wurde." Wir müssen mehr auf unseren Nutzen als auf die gewählte Form achten. Darum sollten wir fromme und schlichte Bücher ebenso gern lesen wie hohe und gedankenschwere. Der Name desVerfassers und sein großes oder geringes Ansehen in der Literatur darf nicht stören.
Was dich zum Buche führen soll, sei einzig die Liebe zur reinen Wahrheit. "Frage
nicht, wer das gesagt hat, sondern achte auf das, was gesagt wird."
2. Die Menschen gehen dahin, die Wahrheit des Herrn aber bleibt in Ewigkeit. Gott
spricht zu uns auf mannigfache Weise, ohne Ansehen der Person. Was uns beim
Lesen der Schriften oft hindernd im Wege steht, ist unsere Neugier. Wir wollen
begreifen und ergründen, worüber wir einfach hinweggehen sollten. Willst du aus der
Lesung Nutzen ziehen, dann lies demütig, bescheiden und voll Vertrauen. Erhebe nie
Anspruch auf den Namen eines Gelehrten. Stelle gern Fragen und höre schweigend
auf die Worte der Heiligen. Lass dich auch die Gleichnisreden der Alten nicht
verdrießen; sie werden nicht ohne Grund gesprochen.
Ungeordnete Gesinnungen
1. Der Quell seelischer Unruhe.
2. Bezwinge dich, und du findest Ruhe.
1. Sobald der Mensch etwas begehrt, was gegen die Ordnung verstößt, erfaßt ihn
sogleich die Unruhe. Hochmütige und Geizige kennen keine Ruhe, der Arme im
Geist und der Demütige leben im vollen Frieden. Wer sich noch nicht gänzlich
abgestorben ist, gerät leicht in Versuchung, er strauchelt über die geringsten
Kleinigkeiten.