Wenige Tage vor Maries Abreise wurde Anne Celinas neue Mitbewohnerin. Deren Eltern steckten gerade mitten im Scheidungskrieg und die Situation zu Hause war unzumutbar. Mrs. Carper wusste, dass Anne die Sache zwischen ihren Eltern sehr mitnahm und sie Abstand brauchte. Deshalb hatte sie Marie angerufen und ihr den Vorschlag mit der Mädels-WG unterbreitet, als ihr Celina von den Plänen ihrer Tante berichtet hatte. Alle waren einstimmig übereingekommen, dass es so das Beste wäre und nach nicht einmal zwölf Stunden war Anne bereits eingezogen und bewohnte nun das Gästezimmer der Familie Young. Es war jetzt genau eine Woche her, dass Marie in den Flieger gestiegen war. Erst gestern hatte sie Celina angerufen und ihr von Prag erzählt.
Es gab nur zwei Bedingungen, die sie vor Antritt ihrer Reise gestellt hatte: Celina hatte jeden Freitagabend um sieben ein Date mit ihrem Handy, damit Marie sich davon überzeugen konnte, dass es ihr gut ginge und ihre Tante hatte ihr auch das Versprechen abgerungen, dass sie egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit anrufen würde, wenn etwas vorfallen oder sie jemanden zum Reden brauchen würde.
Kurz nach Silvester war sie dann abgereist.
Heute war Samstag, der zwölfte Januar und im Vorgarten lag meterhoch der Schnee. Als Celina aus dem Fenster sah, kam es ihr vor, als ob das Haus ihrer Tante mitten im Nirgendwo stehen würde, da man vor lauter Nebel die Nachbarhäuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite nicht sehen konnte. Das Wetter war so ungemütlich, dass Celina trotz ihres dicken Wollpullis fror. Dies lag aber wahrscheinlich nicht allein am Wetter. Seit sie wusste, dass sie Fort Kain verlassen musste, war ihr ständig kalt und sie fühlte sich schlecht, immer wenn dieser Gedanke in ihr aufkeimte.
«Ist alles ok? Du träumst schon wieder vor dich hin», sagte Anne leise und Celina spürte eine sanfte Hand auf ihrer Schulter.
«Sorry, ich weiß...», murmelte sie in sich hinein.
Anne setzte sich ihr gegenüber und schob ihr schweigend den Teller Pancakes hin. Eigentlich hatte Celina keinen Hunger, aber sie wollte Annes Mühe am frühen Morgen nicht zunichtemachen und bediente sich deshalb trotzdem.
In den letzten Wochen hatte das Verhältnis zwischen den beiden Freundinnen viel von ihrer früheren Leichtigkeit verloren. Celina war oft auf dem Anwesen der Laurents und verbesserte ihre Fähigkeiten. Sie machte unglaubliche Fortschritte und ihre Kraft schien grenzenlos zu sein. Wenn sie nicht dort war, war sie stets darum bemüht sich unauffällig zu verhalten und sich durch nichts zu verraten. Es kam ihr vor, als ob sie auf einmal zwei Leben führen würde und eins davon musste sie unter allen Umständen vor Anne geheim halten. Dieser war natürlich nicht entgangen, dass ihre Freundin sich immer mehr zurückzog. Dafür kannte sie Celina viel zu gut und zu lange. Anfangs hatte sie ihr auch Zeit gegeben, aber mittlerweile hatte sich eine Kluft zwischen ihnen aufgetan und diese schien mit jedem Tag größer zu werden. Sie machte sich große Sorgen und wünschte, Celina würde ihr endlich mitteilen, was ihr auf dem Herzen lag. Deshalb hatte sie sich eine Taktik einfallen lassen, die Celina aus der Reserve locken sollte. Ihr war zwar auch klar, dass ihr Vorschlag sicher nicht gut ankommen würde, aber da ihr nichts anderes mehr einfiel, war es zumindest einen Versuch wert.
Vorsichtig begann sie:
«Heute ist doch Samstag und wir haben schon so lange nichts mehr unternommen...»
Celina sah sie misstrauisch an, als ob sie wüsste, was jetzt gleich kommen würde. Fast hätte Anne ihre Idee aufgegeben, aber jetzt gab es keinen Weg zurück.
Sie atmete tief durch und fragte gerade heraus:
«Im Wohnheim steigt heut' Abend eine Party und ich dachte, dass wir da ja vielleicht hingehen könnten. Nur wir beide. Ich weiß, was du normalerweise davon hältst, aber wir hatten schon so lange keinen lustigen Abend mehr. Bitte, bitte, bitte...», fügte sie bettelnd hinzu.
Celina antwortete ihr nicht gleich. Sie wusste nur eins: das Letzte worauf sie jetzt Lust hatte, war auf eine dieser bescheuerten Wohnheimpartys zu gehen und zuzusehen, wie bei den meisten ihrer Kommilitonen der Alkoholpegel anstieg, während das Niveau immer mehr absank. Ihr war einfach nicht nach feiern und sie hatte echt andere Sorgen. Zwar war Tante Marie jetzt aus dem Haus, aber ihr war immer noch nicht eingefallen, wie sie Anne ihre hoffentlich nur vorübergehende Abwesenheit mitten im Semester erklären sollte. Sie wollte Anne nicht wehtun und deshalb suchte sie fieberhaft nach einer Lösung. Ihr wollte aber nichts einfallen. Auch jetzt saß sie ihr gegenüber und überlegte krampfhaft, wie sie ihrer besten Freundin diese grandiose Idee wieder ausreden könnte. Aber Anne wartete auf eine Antwort und je länger sie ihr die schuldig blieb, desto ungeduldiger wurde diese, bis sie es am Ende einfach nicht mehr aushielt und es aus ihr herausplatzte:
«Ist schon gut. Es scheint ja mittlerweile so schrecklich mit mir zu sein. Vielleicht sollte ich besser wieder ausziehen? Ich weiß echt nicht, was ich dir getan habe, aber vielleicht wäre es dir angenehmer, wenn ich dich einfach in Ruhe lasse und jeder von uns seinen eigenen Weg geht», fauchte sie.
Überrascht sah Celina sie an. Sie hatte ihre beste Freundin noch nie so erlebt. Bevor sie etwas erwidern konnte, sah sie Aaron vom Fenster aus. Celina gab ihm zu verstehen, dass er gehen sollte, aber er blieb wortlos in einiger Entfernung stehen und beobachtete die Szene durch das Küchenfenster. Als Anne ihn bemerkte, stand sie auf und rannte mit einem Is' ja wieder typisch die Treppe hoch. Noch immer verwirrt von Annes Gefühlsausbruch öffnete Celina Aaron die Tür. Fragend sah er sie an und Celina gab ihm einen kurzen Einblick in das vorher stattgefundene Gespräch. Ohne ein Wort zu sagen betrat Aaron nach Celina die Küche und setzte sich. Celina lehnte sich gedankenverloren ihm gegenüber an die Küchenzeile. «Ich weiß, dass ich mich ihr gegenüber nicht fair verhalte, aber vielleicht wäre es besser, wenn sie wütend auf mich ist. Dann fällt es ihr vielleicht leichter, sich keine Sorgen zu machen, wenn ich weg bin», fragte sie mit Tränen in den Augen. Aaron ging zu ihr und zwang sie ihn anzusehen.
Hör mir jetzt bitte zu. Du musst das nicht tun. Wir finden eine Möglichkeit. Es ist auf alle Fälle keine Lösung, alle die dir etwas bedeuten, wegzustoßen, um es ihnen damit leichter zu machen. So bist du doch eigentlich gar nicht. Das wirst du dein Leben lang bereuen , redete er beschwörend auf sie ein.
Celina konnte ein hysterisches Lachen nicht unterdrücken.
Ein Leben lang? Was denkst du, wie lange dieses Leben noch dauern wird, wenn ich es nicht bald schaffe zu gehen? Ich habe eine Aufgabe und anstatt mich hier so dermaßen egoistisch aufzuführen, sollte ich lieber ganz schnell anfangen erwachsen zu werden. Sonst wird bald keiner mehr da sein, mit dem ich es mir verscherzen kann, sagte Celina bitter.
Aaron sah ihren Schmerz und redete beruhigend auf sie ein:
Du bist nicht egoistisch. Du sorgst dich einfach nur um die Personen, die dir wichtig sind. Ich verstehe auch, dass dir solche Gedanken kommen, aber so geht das nicht. Glaub mir, ich weiß wovon ich rede. Ich denke, es wäre wirklich das Beste, dir einen schönen Abend mit deiner besten Freundin zu machen. Wer weiß, wann das wieder möglich sein wird. Willst du es wirklich so enden lassen? Gib dir einen Ruck. Wir finden schon eine Lösung und sie wird es verstehen. Vertrau mir!
Zuerst wollte sie ihm widersprechen, aber als sie ihn ansah, konnte sie nicht anders. Sie glaubte ihm, auch wenn sie nicht verstehen konnte, warum das so war. Sie versuchte sich an ihre Argumente zu klammern, aber ihr wollte plötzlich kein einziges mehr einfallen. Noch bevor sie es weiter versuchen konnte, lagen seine Lippen auf ihren und alle Sorgen waren vergessen. Diese Wirkung hatte er immer auf sie. Allein Aarons Anwesenheit reichte aus, um ihre Probleme in den Hintergrund