Bettina Lorenz
Yasirahs Erbe - Geheimnisse der Schatten
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Zitat
~ Ihr aber seht und sagt: Warum? Aber ich träume und sage: Warum nicht? ~
George Bernard Shaw
Prolog
Es war ein Sommertag mitten im August.
Zur Mittagszeit, als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, wurde die Hitze nahezu unerträglich. Nicht ein einziger Windhauch wehte durch das kleine Tal bei Lawthornville und die Luft stand. Man sah der Natur sehr deutlich an, dass es seit Längerem keinen Regen mehr gegeben hatte und wie sehr es sie danach verlangte. Überall waren verbrannte Stellen im Gras, die Ernte verdorrte auf den Feldern und auch der Wald, der das Tal umgab, war so trocken, dass die geringste Unachtsamkeit einen unkontrollierbaren Waldbrand zur Folge hätte haben können. Die Menschen sehnten nun schon seit Wochen den Regen herbei, aber er wollte sich einfach nicht einstellen und auch heute sah man nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sich dies ändern würde. Keine einzige Wolke zeigte sich am strahlend blauen Himmel.
William Addison lag im Schatten eines Baumes an dem kleinen, halb ausgetrockneten See, der sich ganz in der Nähe des Anwesens seiner Familie befand. Er gab vor, ein kleines Schläfchen zu halten. Obwohl er versuchte sie auszublenden, hörte er dabei ganz leise die Stimmen seiner Mutter und seiner Schwester Sophia. Die beiden zu ignorieren, war ihm mittlerweile so zur Routine geworden, dass er sich kaum mehr daran erinnern konnte, dass es jemals anders gewesen war. Auch wenn es ihn erst recht vom Schlafen abhalten würde, versuchte er, in Gedanken zu diesen Zeiten zurückzukehren. Die Erkenntnis, wie schön und sorgenfrei sein Leben einst gewesen war, traf ihn erneut schmerzlich tief und auch wenn er wusste, dass ihn die Erinnerung an die Vergangenheit nur noch mehr in die Verzweiflung stürzen würde, kam er nicht umhin, sich Tag für Tag aufs Neue mit diesen Bildern zu geißeln.
Er kehrte zurück zu den Zeiten vor den Gedanken voller Rache und Hass. Damals hatte in der Familie Addison noch die Gleichberechtigung der beiden Kinder an oberster Stelle gestanden. William und Sophia wurden als Zwillinge geboren und ihre Mutter hatte ihnen immer exakt die gleiche Bildung und Erziehung zukommen lassen. Ihre Kindheit war so unbeschwert und glücklich verlaufen, wie man es sich nur erträumen konnte und seit ihre Mutter sie an ihrem zehnten Geburtstag in das Geheimnis um ihr großes Erbe eingeweiht hatte, hatte er sich so groß und bedeutend gefühlt, wie man nur eben konnte. Niemals wäre er auf den Gedanken gekommen, ihre Versprechen von unvorstellbarer Macht und den einzigartigen Fähigkeiten, die ihnen bis zu ihrem zwanzigsten Geburtstag angedeihen sollten, als reine Fantastereien abzutun. Brav hatte er sich auf sein Erbe und die damit einhergehende Verantwortung vorbereiten lassen. Er hatte davon geträumt, wie viel Gutes er in der Welt bewirken könnte und welche Möglichkeiten sich ihm darboten. Dabei hatte seine Mutter ihnen stets versichert, dass sie beide etwas ganz Besonderes wären und dies nicht daran gebunden sei, ob sie Mädchen oder Junge sind. William hatte ihr geglaubt und vertraut, aber er wurde bitter enttäuscht. Als sie das achtzehnte Lebensjahr erreicht hatten, kamen Sophias Kräfte über Nacht, aber bei William blieben sie aus. Anfangs sagte seine Mutter noch, dass er mehr Geduld haben müsse, weil sie damals noch in dem festen Glauben war, dass es bei ihm nur länger dauere, aber nachdem nun fast zwei Jahre ins Land gegangen waren, schien sie die Hoffnung begraben zu haben. Es schmerzte zu sehen, wie sie ihn Schritt für Schritt immer mehr aufgab.
Und jetzt behandeln sie mich, als wäre ich unsichtbar, dachte er verbissen.
Ja, er hatte einst ein schönes Leben gehabt und wie naiv musste er damals gewesen sein, zu glauben, dass es ewig so weitergehen würde. Jetzt musste er mit ansehen, wie seine Mutter Sophia ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen ließ und er hasste sie beide dafür.
Wieder einmal begann die Eifersucht an ihm zu nagen. Ein ganz kleiner Teil von ihm wusste, dass sein Verhalten nicht fair war.
Seine Mutter bedauerte es sehr, ihm falsche Hoffnungen gemacht zu haben und auch Sophia versuchte immer wieder aufs Neue, ihm Trost zu spenden. Noch vor zwei Jahren hätte er seiner Schwester blind geglaubt, dass sie es ernst mit ihm meinte, doch jetzt war jedes Wort, das sie ihm gab, nur noch mehr Nahrung für den Neid, der ihn innerlich zerfraß. Mit jedem Tag, an dem sie stärker wurde, wuchs seine Verachtung für sie und insgeheim genoss er es. In ihrer Gegenwart hatte er immer das Gefühl, ungenügend zu sein. Sie hatte ihm alles genommen und er konnte sie dafür nicht einfach ungestraft lassen.
Jemand berührte ihn sanft an der Schulter und riss ihn somit aus seinen düsteren Gedanken. Er schrak zusammen und riss die Augen auf. Er brauchte einen Moment, bis diese sich an das gleißende Licht gewöhnt hatten.
Sophia stand strahlend über ihm. Ihr Anblick versetzte ihm einen Stich und er funkelte sie wütend an. Als sie es sah, verschwand das Lächeln sofort aus ihrem Gesicht und sie wich seinem bösen Blick aus.
«Mutter sagt, dass wir nach Hause gehen sollten, weil Vater sicher bald von seiner Reise zurückkehren wird», sagte sie kaum hörbar.
Beherrsch dich, ermahnte er sich, als er den sorgenvollen Blick seiner Mutter sah, welche die Szene aus einiger Entfernung beobachtet hatte.
William glaubte von sich selbst, dass er eine absolute Enttäuschung für sie sein musste und war deshalb