Die Jakobsmuschel konnte sich schwimmend im Meer bewegen. Entsprechend wuchtig war ihr Muskel im Inneren ausgebildet. Um sie einzusammeln verwendeten die Fischer sogenannte Dreschen, Schleppnetze mit kleinen, spitzen Kanten, welche die Muscheln vom Meeresboden wegrissen. Von der Jakobsmuschel wurden nur der weiße Muskel und der Rogensack, den man Corail nannte, gegessen, wobei letzterer einen derart intensiven Meeresgeschmack aufwies, dass er wirklich nicht jedermanns Sache war. Doch der weiße Muskel, vor allem heiß geräuchert, war eine echte Delikatesse unter Kennern.
Der Beifang bestand gewöhnlich aus Kabeljau, Nagelrochen und Kaiserhaien, die allesamt selbst Jagd auf die Zehnfußkrebse machten. Doch seit die EU überall die Fangquoten verringert hatte, mussten sie hier am Moray Firth viel von diesem Beifang wieder über Bord werfen. Das war die Logik von reinen Schreibtischtätern, von idiotischen Beamten im fernen Brüssel, die wertvolle Nahrung lieber wegwarfen, als sie für den Menschen zu nutzen. Und das Ganze verkauften diese Möchtegern-Napoleons dann auch noch als Umweltschutz.
Adair McNeill sog den Rotz aus seiner Nase in den Mundraum und spuckte ihn angewidert aus, ins schäumende Wasser unter ihm.
Was wussten diese EU-Heinis von ihren Problemen? Oder überhaupt über das Meer und die Natur? Statt dass sie die kleinen Fischer unterstützten, subventionierten sie diese riesigen, hässlichen Industrie-Pötte, die irgendwelchen reichen Arschlöchern gehörten und auf denen nur die billigsten Afrikaner und Asiaten ein bisschen Lohn und Brot fanden, zu wenig, um zu leben, zu viel, um zu sterben, auf jeden Fall nicht genug, als dass ein Europäer seine Familien damit hätte durchfüttern können.
All das wurde doch nur unternommen, damit der europäische Konsument möglichst günstigen Fisch in mieser Qualität kaufen konnte, währenddessen sie hier am Moray Firth durch idiotische Quote für den Beifang um ihre Existenz gebracht wurden.
Womöglich konnte das all aber nun ändern? Sobald Großbritannien aus der verdammten Union ausgeschieden war?
Adair McNeill glaubte nicht daran. Die Mächtigen ließen sich nie die Butter vom Brot nehmen und der EU würden bestimmt irgendwelche Tricks einfallen, wie sie weiterhin die reichen Fanggebiete der Nordsee zum Schaden der lokalen Fischerei von den Industrie-Kähnen ausbeuten lassen konnte.
Noch einmal spuckte der alte Mann ins Wasser.
Weiterhin zeigte sich kein einziges Boot am Horizont. Doch zumindest das Wetter schien sich ausgetobt zu haben, denn die Sicht wurde etwas besser. Adair McNeill wusste, je später die Fischer zurückkehrten, je länger sie auf der Jagd nach dem Kaisergranat draußen sein mussten, desto mieser fiel das Fangergebnis aus.
Doch warum dieser plötzlich so starke Niedergang der Quoten gerade in den letzten paar Monaten? Ein riesiges, noch unentdecktes Leck in einer der Öl- oder Gaspipelines? Doch das hätten diese Kerle auf den Förderplattformen doch längst bemerkt und entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Und sie als Fischer hätten bestimmt davon erfahren. Denn das war das einzig Gute an all den Nichtregierungs-Organisationen, die sich in den Fischfang und die Nutzung der Meere einmischten. Sie hörten das Seegras wachsen, hielten ihren Daumen ständig am Puls der Tiden und veröffentlichten regelmäßig negative Kommentare, enthüllten viele Fehlentwicklungen, stellten dazu aber auch immer neue Forderungen an die Regierungen und feindeten im Grunde genommen jeden an, der nicht ihrer Meinung war.
Endlich.
Adair McNeill kniff die Augenlider etwas zusammen, erkannte nun den ersten Masten am Horizont mit völliger Sicherheit, wenig später einen zweiten, dann vier, fünf. Die Fischer kehrten zurück und so bestimmt auch sein Neffe Gavin mit dem Trawler.
Der Alte dachte an die nächste Kreditrate, die für sein Boot bald fällig wurde. Die Generalüberholung im letzten Herbst hatte einfach zu viel Geld gekostet, riss ein so großes Loch in die Familienkasse, dass sie einen hochverzinslichen Kredit von der Bank benötigt hatten. Auch eine Folge des ständigen Niedergangs der Fangquoten. Es kam bereits seit Jahren zu wenig Geld herein, als dass man die notwendigen Rücklagen hätte bilden können.
Selbstverständlich ging Sicherheit an Bord vor. Doch all die neuen Geräte und Einrichtungen, welche die EU-Bestimmungen und die Fischereibehörden von ihnen verlangten, schienen Adair McNeill weit übertrieben. Was für die Hochseefischerei notwendig war, wo Wellen von zehn und mehr Metern auftraten, das galt doch nicht hier am Moray Firth? Sie waren auch keine ungebildeten Asiaten oder Afrikaner, die keine Ahnung von der Nordsee und ihren Gefahren hatten, die als halbe Sklaven auf den Weltmeeren herum geschippert wurden und die angestammten Fanggründe der hiesigen Fischerei zerstörten. Nein, hier in Schottland hatten sie allesamt das Handwerk von ihren Vätern und Großvätern übernommen, hatten von ihnen gelernt, das Meer und den Himmel zu lesen, die Gezeiten zu nutzen, dem Wetter in jeder Jahreszeit zu trotzen. Sie waren zu einem Teil des Wassers geworden und das Wasser war längst ein Teil von ihnen.
Noch einmal zog der Alte den Rotz aus der Nase und spuckte aus. Weniger angewidert als zuvor. Sogar mit einem Anflug eines stolzen Lächelns in seinem sonst so unbeweglichen Gesicht. Trotz all der Sorgen.
Bereits konnte Adair McNeill einzelne Fischerboote erkennen, zählte unhörbar ihre Namen auf.
Adele Two.
Waterfowl.
The Rocket von Gordon Blair.
Doch wo blieb Gavin mit seiner Fenella?
Adair starrte noch angestrengter zu den übrigen, sich nun rasch nähernden Booten hinüber, erkannte weitere Namen und dann, endlich, auch sein Schiff.
Unbeweglich wartete der Alte nun auf das Einfahren der Fischer. Adele Two von Abercrombie war das erste Boot. Wallace stand im Ruderhaus, blickte zu ihm hinüber, schüttelte missmutig seinen Kopf. Er schien verzweifelt.
Der alte Adair spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Wiederum nichts. Erneut zu wenig Fang. Seine Brust verengte sich und McNeill schnaufte ärgerlich-wütend und voll banger Furcht auf. Noch konnte der Alte allerdings hoffen, wollte einfach daran glauben, dass Gavin mit seiner Fenella in dieser Nacht weit besser abgeschnitten hatte als Wallace Abercrombie mit seiner Adele Two.
Es fuhren weitere Boote ein und jeder der Skipper schüttelte mit finsterem Blick seinen Kopf in Richtung McNeill. Äußerlich unerschüttert stand der Alte weiterhin an der Pier, spürte die Blicke der ankommenden Fischer wie Messerstiche, fühlte zudem, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Alle seine Hoffnungen schwanden und bei einer der nächsten Böen schwankte Adair McNeill sogar, ähnlich einer alten, knorrigen Eiche in ihrem letzten Gewitter.
Auch Gavin McNeill kam nun in den Hafen eingefahren, sah seinen Großvater dort stehen, schüttelte ebenso verneinend seinen Kopf, zeigte dasselbe hoffnungsloses Gesicht wie all die anderen zuvor.
Der Alte nahm dies kaum noch wahr, dachte weder an die lästigen EU-Beamten noch an die Ölfirmen oder Umweltschützer, spürte nur die übergroße Furcht vor der so ungewissen Zukunft.
Adair McNeill wandte sich ab und ging langsam und etwas schwankend nach Hause. Nein, er würde sich nicht mit Gavin und den anderen im Pub treffen, wollte nicht die niedergeschlagene Stimmung oder die Wut oder die Ohnmacht der Fischer sehen und hören und spüren müssen. Aus den Augenwinkeln heraus sah er eher unbewusst zu, wie man die wenigen Kisten mit dem Fang von Bord der Schiffe hievte. Er zählte sie nicht, wollte das Trauerspiel nicht mit ansehen, blickte weder nach links noch nach rechts, beantwortete noch nicht einmal den einen oder anderen zugerufenen Gruß.
Denn Adair dachte an früher, an die goldenen Zeiten ohne jede Fangquote, als das Meer noch voller Freiheit, Fische, Krebse und Muscheln war, als man als Eigentümer seines Bootes noch stolz und mit erhobenem Haupt jeden Morgen in den Hafen einlief, weil man wusste, dass man seine Familie, seine Liebsten, mit eigener Hände Arbeit ernähren und versorgen konnte.
Der alte McNeill hielt erst an der Ecke zur Frithside Street inne, drehte sich noch einmal zum Hafen um, schaute ruhig auf das Geschehen, sah möglicherweise aber auch nur die Bilder längst