»Aber im Mittelmeer erzielen sie damit durchaus nachhaltigen Erfolg«, begehrte Gavin auf, »sie fangen auf diese Weise vor allem die mobileren Männchen weg, während alle in ihren Höhlen ausharrenden Jungtiere und die Weibchen verschont bleiben. Auf lange Sicht erholen sich die Bestände mit dieser Fangmethode auf jeden Fall.«
Wiederum nickte gut ein Drittel der Anwesenden stumm, während die meisten ablehnend den Kopf schüttelten. Sie mochten die Idee nicht, auf Schleppnetze verzichten zu müssen. Außerdem hätten Fangkästen einen völligen Umbau ihrer Boote bedeutet und damit große Investitionen. Wer konnte sich so was noch leisten?
»Ich mag dich ja gut leiden, Gavin«, behauptete der viele Jahre ältere Aidan Munro großherzig, »aber solange diese Scheißturbinen mit ihren riesigen Fundamenten die Meeresströmungen beeinflussen, so lange werden die Bestände weiter zurückgehen. Man sollte die verdammten Dinger einfach in die Luft sprengen.«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich, trotz des Irrsinns der Forderung. Die Meinungen waren einmal mehr gemacht. Auch fehlte den meisten Fischern längst das Geld, um hunderte von Fangkörben anzuschaffen und im Gegenzug die Schleppnetzfischerei aufzugeben. Außerdem dauerte es bestimmt viele Jahre, bis sich die Umstellung auf Köderfallen in den Fangmengen widerspiegelte. Diese Zeitspanne konnten die meisten von ihnen auf keinen Fall mehr überstehen. Schon lange vorher wären sie durch die Kreditraten finanziell zu Grunde gerichtet worden. Die lachenden Dritten wären dann die wenigen, die überlebt hatten, sowie Neueinsteiger, vielleicht sogar Zugezogene?
Ohne Krebsfang konnten sich die meisten von ihnen das Leben nicht vorstellen. Und damit auch nicht ohne Fangnetze, egal, wie groß die Zerstörung auf dem Meeresboden auch ausfallen mochte. Ein Teufelskreis, gebildet aus der Überfischung mit der langfristig wahrscheinlich falschen, selbstzerstörerischen Methode, die ihnen trotzdem als einzige Möglichkeit geblieben war, um nicht schon morgen oder übermorgen ruiniert zu sein.
Gavin McNeill nippte am neuen Glas. Seine Gedanken schwankten zwischen unbändigem Zorn gegen das eigene Schicksal und der Einsicht, nur gemeinsam mit allen anderen etwas daran ändern zu können. Frustrierend war vor allem die Erkenntnis, dass sie als Fischer hier zwar jeden Morgen zusammenstanden oder saßen und trotzdem keine Gemeinschaft bildeten, die am selben Strick zu ziehen vermochte.
Vielleicht waren die EU-Beamten in Brüssel doch die Klügeren, zusammen mit den ungeliebten Umweltschützern, die ständig noch niedrigere Fangquoten verlangten, einen schonenderen Fischfang und weit weniger Raubbau.
Die Zeiten des Überflusses waren schon vor dreißig oder vierzig Jahren überall an der Nordsee zu Ende gegangen. Und die letzte Stunde des freien, selbstständigen Fischers schien auch hier am Moray Firth längst angezählt.
*
Das Pub hieß »African Dragon« und lag an der Warwick Street in Kapstadt, unweit des Hafens. Die meisten Gäste waren Einheimische aus der Mittelschicht, die sich hier über den Mittag eine Kleinigkeit zu Essen gönnten oder am späteren Nachmittag ihr Feierabendbier mit Kollegen und Freunden tranken. Gegen neun Uhr abends schlief der Betrieb in der Regel bereits ein und um halb zehn schloss das Lokal gewöhnlich seine Türen. Trotz des mangelhaften Abendgeschäfts lief das Pub nicht schlecht, ernährte zumindest seine beiden Betreiber.
In der Küche stand Sophie Shi, eine Chinesin von etwas über sechzig Jahren. Die Theke und die Tische bediente derweil ihr Lebenspartner Fu Lingpo, auch schon beinahe im Rentneralter. Sie hatten das heruntergewirtschaftete Lokal erst vor wenigen Monaten übernommen, wollten sich hier endlich die schon lange erhoffte Lebensgrundlage in Afrika aufbauen, nachdem sie zuvor in Kenia gleich zwei Mal, eigentlich sogar drei Mal, gescheitert waren.
Auch hier am Kap der guten Hoffnung war ihnen der Neustart alles andere als leichtgefallen. Denn die mannigfaltigen Vorbesitzer hatten das Lokal von einem hochklassigen Inder, über einen mittelmäßigen Italiener, zu einem bescheidenen Fish&Chips, weiter auf der kulinarischen Leiter hinab zu einem billigen Burger&Pizza-Shop verkommen lassen, der sich vor allem dank der Toleranz gegenüber Drogenhändlern und ihrer Kundschaft noch einige Zeit über Wasser hatte halten können. Irgendwann schritt die südafrikanische Polizei aber doch ein, nachdem sich die Nachbarn oft beschwert hatten. Sie brachte die Betreiber hinter Gitter und schloss das Lokal.
In den folgenden Wochen wurde die verlassene Gaststätte von Einbrechern und Dieben heimgesucht und regelrecht ausgeschlachtet. Nebst allen Maschinen, der gesamten Kücheneinrichtung und sogar der Lüftungsanlage, verschwanden auch die hochwertigen Dielenbretter aus dem Gastraum. Doch im Gegenzug konnten Sophie Shi und Fu Lingpo das ehemalige Restaurant äußerst günstig und langfristig pachten, was ihnen sehr entgegenkam. Sie bezahlten gerade mal zweitausend Rand pro Monat, auf drei Jahre fest, mit der Option zu einer Verlängerung auf zehn Jahr mit dreitausend Rand, ohne Nebenkosten, versteht sich. Im Gegenzug mussten die beiden allerdings über dreihunderttausend Rand aufwerfen, um aus den verwüsteten Räumen so etwas Ähnliches wir ein Irish Pub zu machen.
Weil aber das Lokal bei der Bevölkerung über so viele Jahre im Verruf gestanden hatte, dauerte es entsprechend lange, bis sich die ersten, noch etwas scheuen Gäste, zum Mittagessen einfanden. Fu und Sophie begingen jedoch nicht den Fehler, aufgrund des zuerst äußerst spärlichen Interesses sogleich in Panik zu verfallen und beispielsweise die Preise fürs Essen ins Ruinöse zu senken oder ihr restliches Geld mit irgendwelchen übertriebenen Werbeaktionen zu verschleudern.
»Alles Solide braucht seine Zeit, bevor es Früchte tragen kann«, hatte Sophie Shi an so manchem Abend tröstend zu ihrem Lebenspartner Fu Lingpo gesagt, wenn der die mageren Tageseinnahmen durchzählte, die zu Beginn meist auf ein paar Bieren und wenigen Gläsern Whiskey beruhten, getrunken von Leuten, die sich aus reiner Neugier ins Lokal verirrt hatten.
Doch warum, um Gotteswillen, mochte man sich fragen, betrieb ein älteres, chinesisches Paar ein irisches Lokal im südafrikanischen Kapstadt?
Wohl aus demselben Grund, wie der frühere Inder von einem Pakistani, der Italiener von einem eingewanderten Türken, der Fish&Chips von einem Deutschen mit seiner niederländischen Freundin und die Burger&Pizza-Bude von zwei Thailändern betrieben worden waren. Denn immerhin lebte man am Kap der Guten Hoffnung. Hier war alles schon seit Jahrhunderten Multi-Kulti und Kuddel-Muddel. Fastfood-Kioske und billigste Chinesen fanden sich zudem am Hafen unten in reichlicher Zahl. Mit einem ähnlichen Angebot hätte man wahrlich keinen einzigen Gast hierher an die Warwick Street locken können, außer vielleicht erneut die Drogendealer und Junkies.
Als das Mittagsgeschäft nicht so recht anlaufen wollte, reagierte Sophie Shi rasch und konsequent, wie es ihre Art war. Sie begann eine Art von Irischen Dim-Sum herzustellen, also chinesische Teigtaschen mit einer Irish Stew Füllung, in Bambuskörben gedämpft. Fu Lingpo reichte sie als Gratisbeigabe zu jedem Bier oder auch zu allen härteren Getränken, an Stelle der sonst üblichen einfallslosen Erdnüssen, Salzstangen oder Chips. Die chinesischen Snacks, deren Name auf Kantonesisch »Das Herz berühren« bedeutete, kamen bei den Gästen ausgesprochen gut an und der neue Geist im alten und zuvor verlotterten Lokal sprach sich langsam im ganzen Quartier und auch am Hafen herum. Die ersten Mittagskunden getrauten sich zum Essen hinein, gingen zufrieden weg und machten Mund-zu-Mund-Propaganda. Im dritten Monat begann das Lunch-Geschäft regelrecht zu brummen und ohne Reservierung konnte man nach halb ein Uhr nur noch mit viel Glück einen der Tische ergattern. Da die Gegend aber nicht zur Ausgehmeile von Kapstadt zählte, kamen abends eher selten Gäste zum Essen vorbei. Deshalb hatte Fu Lingpo vor drei Wochen versuchsweise damit begonnen, ein zusätzliches Frühstücksgeschäft aufzubauen. Sophie probierte sich dabei an französischem Gebäck aus, das ihr auch leidlich gut gelang, vor allem die Croissants. Die hatte Fu Lingpo schon während seiner Zeit in Hongkong so sehr geliebt. Während ihren gemeinsamen Jahren hier in Kenia hatte er fast immer auf sie verzichten müssen.
Doch die Einheimischen in Kapstadt schienen weder eine Croissants- noch eine Frühstücks- oder gar eine Kaffeehaus-Kultur zu kennen. Oder sie hatten einfach keine Lust, ihren Arbeitsweg für einen Halt im Pub zu unterbrechen. Und so stand Fu Lingpo zwar weiterhin um sieben Uhr morgens in seinem Laden, heizte den Ofen ein, um bei Bedarf die eingefrorenen Gebäckstücke von Sophie frisch aufzubacken, schenkte jedoch meist bloß ein paar notorischen Alkoholikern