Als die Tasse leer war, füllte sie sogleich nach, ließ sie dann aber erst einmal stehen.
Was hatte ihre Mutter in ihren Träumen bloß zu suchen? Warum tauchte sie gerade jetzt in ihren nächtlichen Gedanken auf? Das musste etwas zu bedeuten haben.
Sihena sah das Gesicht von Lien wieder vor sich, diese schwarzen, streng blickenden Augen, den verkniffenen, schmalen Mund. Glücklich hatte sie ihre Mutter eigentlich nie gesehen. Höchstens zwischendurch einmal etwas erfreut. Und lachen konnte Lien eh nicht. Zumindest nicht äußerlich oder gar laut. Stattdessen verzog sich ihr Mund jeweils schief und sie sah dabei aus, als wäre ihr übel oder als müsste sie gleich Blut und Galle spucken. Wie hatte ihr Vater diese Frau bloß ein Leben lang ausgehalten? Sihena schüttelte verständnislos ihren Kopf und erblasste gleich danach.
Kinder erbten doch stets einige der guten, aber auch viele der schlechten Eigenschaften ihrer Eltern, körperliche und seelische. Was waren die Überbleibsel ihrer Mutter in ihr? Die Nase, ohne Zweifel, gestand sich Sihena ein. Auch die langen, schlanken Hände. Und die krampfigen Adern mit den dicken Gelenken ebenso, fügte die chinesisch-stämmige Brasilianerin bitter in ihren Gedanken hinzu. Doch sonst? Ihr Lächeln war ganz anders, glaubte sie zumindest. Und auch all das sonstige Gehabe ihrer Mutter war keineswegs vergleichbar mit ihrer straffen Haltung und ihrem weltgewandten Auftreten.
Mei, ihre mittlere Tochter, hatte sie allerdings schon einmal mit der Großmutter verglichen.
»Du bist wie Avó Lien«, hatte sie wütend zu ihr gesagt, »genau derselbe Sturkopf, der weder links noch rechts schaut, für den es immer nur ein Geradeaus gibt.«
Diesen Starrsinn hatte Sihena zwar selbst an ihrer Mutter erlebt und gehasst. Das mit Konfuzius war bloß eines ihrer ewigen Themen. Hinzu kamen Kindererziehung, das Auftreten in der Öffentlichkeit, die Bekanntschaften des Ehepaars Ling. An allem und jedem mäkelte ihr Mutter ständig herum. Nichts genügte ihr. Vieles war ihr zuwider.
Aber ihre Tochter Mei hatte sich geirrt. Nur weil sie eine feste Meinung besaß und sie auch vertrat, hatte das doch noch lange nichts mit Sturheit oder gar Starrsinn zu tun? Wo käme die Welt denn hin, wenn sich alles bloß nach den Kindern richten müsste? Nein, ihre mittlere Tochter war ungerecht zu ihr gewesen. Wahrscheinlich hatte ihr auch dieser verdammte Philippine vieles eingeredet. Sie hatte diesem Chufu Lederer noch nie über den Weg getraut. Zu geschniegelt und geschliffen und glatt war er in ihr Leben getreten, hatte sich bei Zenweih eingeschleimt, versuchte Ähnliches auch bei ihr. Doch da hatte sich der junge Kerl gehörig geschnitten. Ihr Gatte mochte eine degenerierte Ausgabe eines echten Chinesen sein. Immerhin hatte er nie in der alten Heimat gelebt. Sie hingegen konnte sich kaum mit einem Philippinen an der Seite ihrer leiblichen Tochter abfinden. Diese Rasse war nicht gut genug für jemanden aus dem Reich der Mitte. Niemals.
Ihre Gedanken waren abgeschweift und der Espresso in der Tasse längst abgekühlt. Trotzdem schluckte sie den bitteren Trank, sog ihn in einem Zug hinunter. Den Rest der Kanne leerte sie in die Schütte, stellte sie daneben, schlurfte in ihren Pantoffeln wieder die Stufen der Treppe hoch in ihr Schlafzimmer, zog den Bademantel aus und legte ihn über eine Stuhllehne und sich selbst ins Bett.
Was konnte sie denn noch unternehmen, um endlich zu erfahren, was ihre Mutter in ihren Träumen zu suchen hatte?
*
Es war ein stürmischer Morgen am Moray Firth, der großen Meeresbucht an der Ostküste Schottlands. Heftig aufkommende Winde peitschten die Wasseroberfläche. Langgezogene Wellen brandeten weit höher und stärker als gewöhnlich gegen die Kaimauern des Hafens von Fraserburgh. Am Himmel türmten sich dunkle Wolken, als stünde das Jüngste Gericht bevor.
Die wenigen angetauten Fischerboote hoben und senkten sich heftig in den Wogen des Wassers. Schon vor Stunden hatte ein höchst unangenehmer Nieselregen eingesetzt, dämpfte mit seinem Nebel gleichermaßen die Sicht aufs offene Meer, wie auf die bunt bemalten Fassaden der Häuser um das Hafenbecken herum.
Adair McNeill stand an einem der Piere, blickte hinaus auf das trübe Wasser und hinein ins Grau und Schwarz des Himmels, sah nicht die Wellen kommen, spürte den Regen nicht, achtete auch nicht auf die wenigen Möwen, die in den Böen taumelten und schrien, schaute nur in die Ferne, suchte den Horizont ab und dabei vielleicht auch lang vergangene Bilder.
Die Ölhaut mit der weiten Kapuze hielt ihn trocken. Nur sein wettergegerbtes Gesicht mit den wie aus Stein gemeißelten Zügen war klatschnass. Doch der Alte schien dies nicht zu spüren und schon gar nicht zu beachten. Zu sehr plagten ihn die Sorgen. Aber nicht um seinen Trawler Fenella. Den steuerte sein Neffe Gavin seit Jahren sicher. Auch nicht wegen des heftigen Wetterumschwungs. Stürmische See waren alle Fischer hier im Norden Europas gewohnt. Nein, den Alten hatte einzig die Sorge um den Fang so früh am Morgen in Wind und Wetter getrieben. Denn bereits seit einiger Zeit war der Bestand an Kaisergranat im Moray Firth nicht mehr gesichert. Hatte sich der Mensch über viele Jahrzehnte hinweg ungestraft am ungeheuren Krebsreichtum der See bedient, so schien die Natur, aus welchen Gründen auch immer, nun doch allmählich erschöpft. Woran das lag, das wusste niemand zu sagen.
Manche vermuteten den Einfluss der Erdöl- und der Gas-Förderung vor der Küste. Irgendwelche unentdeckte Lecks in den unterseeischen Pipelines. Oder die ständige Verschmutzung des Wassers durch die Versorgungsschiffe der Plattformen.
Andere machten den Klimawandel verantwortlich. Der musste mittlerweile für alles und jedes herhalten, selbst fürs Wetter von heute und morgen.
Adair McNeill hatte keine Meinung dazu. Er beobachtete bloß und machte sich immer größere Sorgen. Denn was nutzten all die Spekulationen? Auf das Öl und all das Gas würden die Leute niemals verzichten. Und Klimawandel hatte es schon immer gegeben, ob durch den Menschen verursacht oder nicht. Auch damit hatten sie hier am Moray Firth seit Jahrhunderten zu leben gelernt.
Irgendwelche Umweltschützer reklamierten allerdings lautstark, dass vor allem das Fischen mit Schleppnetzen die Schuld am Rückgang der Zehnflusskrebse trug. Doch was wussten diese Studierten schon? Seit vielen Jahrzehnten jagten die Fischer hier in Schottland auf diese Weise den Krebsen nach, ohne dass die Bestände bis vor einiger Zeit zurückgegangen wären. Und heute gab es doch weit weniger Boote als noch vor dreißig Jahren? Weniger Fischer, weniger Umweltzerstörung und trotzdem gingen die Bestände weiter zurück. Diese Logik focht die Umweltschützer jedoch keineswegs an. Was hatte er in der Zeitung vor ein paar Monaten über Trumps Pressesprecherin gelesen? Sie hatte wohl von alternativen Fakten gesprochen. Für Adair McNeill war sogleich klar gewesen, was die US-Administration damit gemeint hatte, nämlich Tatsachen, die der Gegenseite nicht ins Konzept passten und die deshalb von ihr unbeachtet und unerwähnt blieben. Die Welt hatte es anders gesehen.
Als Alternative zu den Schleppnetzen hatten diese sieben-gescheiten Umweltschützer vorgeschlagen, nur noch mit Hilfe von Köderkörben den Kaisergranat zu fangen, so wie man es im Mittelmeer seit vielen Jahren erfolgreich tat.
Fallen versenken und nach einiger Zeit wieder hochholen und leeren? Was hatte das mit Fischfang zu tun? Dem ehrlichen Gewerbe, das er und seine Vorfahren schon seit vielen Generationen ausübten? Der Kaisergranat gehörte zu den wichtigsten Einnahmequellen in Fraserburgh, wo zwei von drei Arbeitsplätzen direkt vom Fischfang abhingen. Neben den Zehnfußkrebsen wurden aber auch von November bis März nach Kammmuscheln gefischt. Vor allem die Jakobsmuschel war begehrt. Man nannte sie auch Pilgermuschel, denn sie war dem Heiligen Jakobus postum als Erkennungszeichen zugedacht worden. Fortan trug sie der Kirchenmann auf allen Abbildungen und Statuen, entweder am Hut oder am Gürtel. Und da Jakobus als der Schutzpatron aller Pilger gilt, wurde die Muschel rasch zum Symbol und Erkennungszeichen all derer, die sich auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela aufmachten. Bereits im