Carsten erschien ihr in sich gekehrt und verstockt; nahezu abwegig.
Oft war er allein in seinem Zimmer und murmelte dort die ganze Zeit auf einer Sprache, die sie nicht verstand, vor sich hin.
Es war aber Ungarisch und Carsten sprach zu seiner toten Mutter.
Er fühlte sich noch immer innig mit ihr verbunden und mit der Zeit trauerte er auch nicht mehr so sehr um sie, sondern gab sich ganz der überweltlichen Bindung, die er nun zu ihr aufgenommen hatte, hin.
So schaffte er es auch, die ungarische Sprache nicht zu vergessen.
Eines allerdings gab es, das ihm fehlte; was er vermisste und was er einfach nicht vergessen konnte, und das war Ungarn.
Carsten vermisste seine Großeltern und ihr Haus an der Debreceni Utca; der Hauptstraße, gegenüber der katholischen Kirche mit ihrem großen weißen Steinkreuz und dem gekreuzigten Jesus, er vermisste den wilden,
schönen Garten, er vermisste die Puszta, er vermisste den Theiß-See und dessen dicht bewachsenen Ufer, er vermisste seine Cousins und seine Cousine, mit denen er oft gespielt hatte und er vermisste seinen Onkel,
den Pastor, der immer so nett zu ihm gewesen war.
Dies alles aber war längst in unerreichbare Ferne gerückt.
Ulrike war jetzt seine Mutter und er sollte Ilona und all das vergessen. -
Falls nun jemanden von Euch Carstens Onkel, der Pastor, aufgefallen ist, weiß er ja vielleicht schon, worauf dies hier hinausläuft.
Jener Pastor in Tiszafüred ist jedenfalls Ilonas Bruder; Carstens Onkel und der Vater von Tibor.
Ja, Tibor und Carsten sind Cousins.
Ich hab all das genau geplant und ich glaube, dass es ein guter Plan ist.
Im Moment ist es allerdings so, dass sich Tibor nur noch vage an Carsten erinnern kann und auch Carsten hat jetzt nur noch undeutliche Erinnerungen an seinen Cousin. Wisst Ihr, als die Beiden sich das letzte Mal gesehen haben, waren sie vier.
Nun sind zwölf Jahre vergangen und der Unterschied zwischen ihnen könnte kaum größer sein. Hier der schöne, begünstigte, selbstbewusste und kühl überlegene Tibor, der einer glorreichen Zukunft als Musiker entgegensieht, und dort der unscheinbare, ängstliche, gebeutelte und liebe Carsten, der nicht weiß, was ihm die Zukunft sonst noch schlimmes bringen wird. Ja, es ist wirklich ein Unglück mit ihm und wie so oft im Märchen wird es jetzt, bevor es besser wird, erst mal schlimmer.
Denkt aber daran, was ich gesagt hab - es wird besser, ganz bestimmt.
Das hab ich Carsten versprochen und dieses Versprechen werd ich auch halten.
I. 11.
Ich bin beim Rotwild von der Auenwiese. Heute ist ein schöner und sonniger Tag, doch es ist noch immer ziemlich kalt und an den Schwarzelen glitzert der Raureif in dem hellen Licht.
Ich füttere das Rotwild mit Apfelstücken und als es sich schließlich in den Wald zurückzieht, mache ich mich auf den Weg ins Parkcafe,
wo meine Eltern wieder auf mich warten.
Ich bin froh, dass ich heut allein gehen konnte. Im Fasa-Park fällt mir das Alleinsein überhaupt nicht schwer, doch sonst fühle ich mich schon ziemlich oft einsam und verlassen.
Ich versuche aber, mir dass nicht anmerken zu lassen. Ich spreche auch, obwohl er mir doch so sehr fehlt, mit niemanden mehr über Paul.
Was hätte ich schon sagen sollen?
Wisst Ihr, ich würde gerne mal mit Pauls Eltern, seiner Schwester oder seinen Freunden über ihn sprechen. Seit Paul aber nicht mehr da ist,
sind sie nie mehr ins Krankenhaus gekommen und zu sich eingeladen hat mich auch niemand.
Im Grunde hab ich auch nichts anderes erwartet. Die müssen wohl alle selbst sehen, wo sie bleiben und ganz bestimmt hat keiner von denen jetzt mehr Bock, bei mir auf der Onkologischen rumzuhängen.
Es gibt ja auch wirklich angenehmere Orte.
Nein, von Leukämie und solchem Zeug haben die bestimmt die Schnauze voll und von daher kann ich verstehen, dass sie wegbleiben.
Warum aber trifft man sich dann nicht irgendwo anders…
Na ja, vielleicht weil die jetzt Leute, die Krebs haben, generell nicht mehr ertragen können - egal an welchem Ort.
Vielleicht aber fanden die mich auch einfach nur nicht so gut und haben deshalb kein Interesse an mir.
Keine Ahnung, was tatsächlich der Grund ist.
Tatsche ist, dass keiner von denen mehr da ist, aber das ist wohl okay für mich (hoffe ich jedenfalls).
Ich hab ja jetzt meine Geschichte und auch wenn sie mir ein wenig Gesellschaft nicht vollständig ersetzen kann, so macht sie mir das Leben doch erträglicher.
Nun aber merke ich gerade, dass ich müde werde.
Meine körperliche Belastbarkeit hat unter der Leukämie gelitten und letzte Nacht hatte ich sogar wieder Fieber.
Mir ist ein wenig schwindelig. Ich bleibe einen Augenblick stehen und sehe in die Baumkrone einer alten Kiefer.
Wenn ich doch wenigstens nach Hause könnte…
Aber das wird wohl nun, wo meine Form so stark schwankt,
erstmal nichts.
Ich muss mich beeilen, denke ich.
Bestimmt kann es mit mir viel schneller vorbei sein, als ich mir jetzt überhaupt vorstellen kann…
Weißt du, lieber Gott, denke ich weiter, irgendwie möcht ich aber,
bevor ich sterb, meine Geschichte noch zu Ende gedacht haben. Vielleicht würde ich sie sogar aufschreiben.
Ja, das wäre was…
Wenn ich also noch ein bisschen weiterleben und mich irgendwann besser konzentrieren kann… Dann schreib ich sie auf.
Ich gehe weiter und erreiche nach einer Weile das Cafe.
Meine Eltern haben mich durch das Fenster bereits gesehen und winken mir zu. Ich winke zurück und stelle den Mp3Player aus.
Ich hab die ganze Zeit über Novembers Doom - Bled white - gehört
und ich frage mich, ob damit vielleicht diese Leukämie gemeint sein könnte. Leukämie heißt doch soviel wie Weißblütigkeit und wenn einer dann weiß blutet oder geblutet hat…
Ich betrete den Gastraum.
I. 12.
Ich hab im Krankenhaus im Internet nachgesehen, aber “Bled white” wurde da mit “zahlen bis zur Weißblütigkeit” übersetzt.
Ich weiß nicht genau, was damit gemeint ist, könnte mir aber vorstellen, dass jemand für eine Schuld bezahlen soll, bis es zu einer Art Reinheit durch Sühne gekommen ist.
Das ist auch nicht schlecht, aber für mich ist damit die Leukämie gemeint und dieses Lied ist für mich mittlerweile zu meinem Leib- und Seelensong geworden. Die ganze Wucht der Verzweiflung liegt darin.
Letzte Nacht hatte ich einen Traum.
Ich ging den Weg beim Schwarzerlenwald im Fasa-Park entlang, als auf einmal Paul vor mir stand. Er sah auf, grinste und meinte:
”Nicht schlecht, was du dir alles ausdenkst, Henny…
Mach bloß