John fühlte sich leer. Und oft, wenn er sich so fühlte, surfte er im Worldwideweb herum, um Sexvideos zu finden, die er downloaden oder streamen konnte. Wer sich einmal dran gesetzt hat, solche Seiten zu finden, der fand immer etwas. Er hatte genügend Sicherheitssoftware installiert, um Viren abzuwehren, die man sich fast immer auf diesen dunklen Seiten einfing. Wenn er sich bei Bekannten umhörte, stellte er fest, dass fast alle Sexseiten kannten. Manche gaben offen zu, dass sie vor ihrem Rechner sitzen und nackte Weiber angucken, bei anderen merkte man, dass sie es taten, aber nicht zugeben wollten. John fand ein Filmchen mit zwei vollbusigen Blondinen, die es einem Mann besorgten. Der Pornostreifen war nicht schlecht und er hatte seinen Spaß. John fühlte sich jetzt besser.
Bevor er nun ins Bett ging, wollte er Ihm noch kurz etwas mailen. Leidenschaft? Was fiel ihm zu diesem Thema ein. Hatte er schon einmal richtig Leidenschaft entwickelt? Momentan kam ihm sein Leben recht leidenschaftslos vor. Er machte seine Arbeit, doch sich richtig reingeben, das war es nicht, vielmehr empfand er viele Dinge, die er tat, als eine Form von Sucht. Die Sache mit den Erotikfilmchen war so etwas. John suchte manchmal stundenlang nach Bildern von nackten Frauen oder nach Filmchen, befriedigte sich selbst und stellte dann fest, dass die Zeit recht kurz geworden war, bis dass der Wecker wieder klingelte. Viele Nächte hatte er schon vor dem PC verbracht und nicht bemerkt, wie viele Stunden er auf der Suche nach irgendwelchen Pornobildchen vergeudet hatte. Leidenschaft war das jedoch nicht. Ihm kam es eher so vor, dass er zu faul für ein leidenschaftliches Tun war. Genau das war eine Frage, die er Ihm stellen könnte. John schrieb seine Mail an Ihn. Zunächst – und das kostete ihn schon eine große Überwindung – beschrieb er seine nächtlichen Exkursionen. Und dann erläuterte er seine Vorstellungen über Faulheit. Oder war es eher Trägheit? Er bekam den Hintern nicht hoch. Seine Ergüsse endeten in der Frage: Was unterscheidet eigentlich Sucht von Leidenschaft? Und warum hat sich über mein Leben eine solch große Trägheit gelegt?
John war mittlerweile so müde geworden, dass er seinen PC runter fuhr und sich sofort ins Bett begab. Am nächsten Morgen hätte er fast verschlafen. Um vor der Arbeit, die Mails abzurufen, war einfach keine Zeit. Unruhig fuhr er in seine Firma. An diesem Tag gab es keine Sitzungen. Er konnte die Post wegarbeiten, den Schriftkram erledigen und vor allem pünktlich Feierabend machen. Gespannt fuhr er nach Hause. Wie würde die Antwort lauten? Der Feierabendverkehr nervte an diesem Tag mehr als sonst. Endlich saß er an seinem PC und konnte die Mails abrufen. Natürlich war die Antwort seines Meisters dabei: „Wilde Pferde müssen mühsam gezähmt werden, damit man auf ihnen reiten kann. Wer nur ein einziges Pferd zugeritten hat, reitet irgendwann auf einem lahmen Gaul.“ Was sollte dieses Bild bedeuten? Pferde zähmen? Okay, so ein wildes Pferd ist sicherlich leidenschaftlich. Doch es ging ja um seine Leidenschaft. Und warum sollte er mehrere Pferde zureiten. Er wurde ein wenig sauer auf Ihn, der immer nur in Metaphern antwortete. Was sollte das für ein Life-coaching sein, wenn er damit nichts anfangen konnte? Ein Meister sollte ihm doch das Leben einfacher machen. John hatte keine Lust auf weitere Fragen und Antworten. Er war genervt.
Er beschloss, sich an der frischen Luft abzureagieren. Also ging er in den nahe gelegenen Park und genoss die frische Luft. Der Wind ließ ihn sanft Berührungen spüren. Die Sonne wärmte nicht nur seine Haut, sondern auch sein Gemüt. Mit der Sonnenkraft vollgetankt kam ihm auch die Frage in den Sinn: Muss man voll sein, um sich leer machen zu können? Jetzt hatte er nichts Sehnlicheres vor, als genau diese Frage an Ihn zu schicken. In wenigen Augenblicken saß er wieder an seinem PC und schickte eine Mail mit dieser Frage ab. Sofort hatte er eine Antwort auf seine Frage. Die Antwort war so schlicht und kurz, wie ärgerlich. „Ja“ las er nur. Es war eine klare Antwort, doch er hätte gerne eine Begründung für dieses Ja gelesen. Er schrieb zurück: Was bedeutet dieses Ja? Welche Fülle und welche Leere sind gemeint? Er schrieb sich nach diesen Fragen noch mehr aus dem Leib. Wieder hatte er sich verausgabt. Die Antwort kam wie immer postwendend: „Wie gibst du deinem Körper innere Stärke?“ Was sollte das denn nun wieder? Erst war von Fülle und Leere die Rede und nun vom Körper. Sein Körper war in Ordnung. Er ging doch regelmäßig ins Fitnessstudio. Und wenn er sich dort umschaute, musste er feststellen, die anderen waren ziemlich schlapp. Die Anabolikatypen hatten natürlich Körper wie Kampfmaschinen, doch das schien ihm ganz und gar nicht ästhetisch. Vor allem konnte er Körper und Stärke nicht übereinander bringen. Er fühlte sich stark, wenn er im Fitnessstudio seine Übungen machte. Die Frauen schauten interessiert. Und das machte ihn stark. John hatte jedoch die Ahnung, dass Er das nicht meinte. Wieder schrieb er eine Email: Was bedeutet Stärke? Und er schrieb, was er in seinem täglichen Kampf mit den anderen Männern erlebte. Da fühlte er sich nicht immer stark, weil ihn manchmal so kleine Typen durch eine geschickte Rhetorik übervorteilten. Er erinnerte sich daran, wie er neulich bei einem Strategiegespräch von seinem Lieblingsfeind ausgetrickst worden war. Dieser Typ war klein, hatte sich im Betrieb hochgearbeitet und verstand es, fast immer seine Interessen durchzusetzen. Körperlich war er sicherlich stärker als dieser Gnom, doch ihm fehlte etwas, was dieser Typ hatte. John versuchte sich an alles zu erinnern und schrieb es mit allen Details auf. Zum Schluss seiner Mail kam er dann zu der Frage: Ist körperliche Stärke eher der Ausdruck von Willensstärke als die tatsächliche Kraft?
Postwendend bekam er seine Antwort: „Ein Baum mit tiefen Wurzeln kann dicke oder dünne Äste haben, selbst wenn Zweige im starken Sturm brechen, bleibt er standhaft.“ John missfiel dies mit der Stärke. Er kannte genug Leute, die hatten es einfach, denen flog alles zu. Bei ihm war es genauso. Er hatte Schule und Universität ohne große Mühen geschafft, groß anstrengen musste er sich dabei nicht. Auch seinen Job hatte er einfach bekommen. Er hatte gerademal zwei Bewerbungen geschrieben und schon hatte er eine Arbeitsstelle, die er sich gewünscht hatte. Auch andere Dinge flogen ihm zu. Was sollte also Stärke sein? Jeder bekommt das, was ihm zustößt. Er konnte die Leute nicht ab, die ihm was von Leid erzählten, man müsse mal so richtig unten gewesen sein, um zu wissen, was das Leben ist. Welch ein Quatsch? Nun gut, er war nicht unbedingt glücklich, doch was ihm fehlte, konnte er gar nicht sagen. Im Betrieb war jemand, der hatte vor ein paar Wochen einen schweren Autounfall gehabt und jetzt war dieser Typ auf Bekehrungstour. Jedes Mal, wenn man mit ihm ins Gespräch kam, erzählte er von seiner tiefen Erfahrung, die er durch den Autounfall gehabt hätte, dass ihm bewusst geworden wäre, wie oberflächlich er bisher gelebt hätte und dass er nun wisse, wofür er lebt. Er lege keinen großen Wert mehr auf materielle Dinge und hätte angefangen, Bücher vom Dalai Lama zu lesen und das gäbe ihm unheimlich viel. Er nähme das Leben ganz anders wahr. Und die Beziehung mit seiner Freundin wäre auch viel intensiver geworden, nächtelang würden sie jetzt miteinander reden und das ginge total tief. John dachte dann bei sich, lieber würde ich mit einer Frau bei ganz anderen Tätigkeiten als Reden in die Tiefe gehen. John konnte dieses Gequatsche von diesem Typ nicht ab. Er hatte einen anderen Arbeitskollegen gehabt, der durch den Tod eines Freundes auf einen solchen Trip gekommen war. Der hatte auch den wahren Sinn des Lebens gefunden, während seines Urlaubs fuhr er ab da zu irgendwelchen Mönchen zur Meditation und kam dann immer „erleuchtet“ zurück. Nach ein paar Monaten kam er morgens nicht zum Job. Irgendwer rief dann bei ihm an, doch vergeblich. Zwei Tage später fand man ihn im Keller seines Hauses aufgehängt. So erleuchtet kann er also doch nicht gewesen sein. John misstraute diesen erweckten Leuten, die von ihrer Bekehrung quatschen und nicht wussten, wie man Spaß am Leben hat. John konnte auch nicht glauben, dass man unbedingt solche Erfahrungen wie Tod, Krankheit usw. machen müsste, um zu einem glücklichen Leben zu gelangen. Ihm schien es zu einfach, eine existenzielle Erfahrung und schon ab ins Nirwana.
John fiel das Wort Orientierung ein. Das war es, um das es