Umbruch
Es hätte alles so weiter gehen können. Ab und zu eine Bettgeschichte mit so einer Silikonpuppe, ein wenig für den Geist bei einem guten Buch oder bei Gesprächen mit seinen Freunden. Später, wenn die Zeit dafür reif ist, wollte er sich mal nach einer Frau umschauen, mit der er eine feste Beziehung eingehen könnte. Im Alter ist das halt besser, da stehen die jungen Dinger nicht mehr auf so einen alten Knacker. Wenn man dann eine feste Beziehung eingeht, ist man nicht so allein und wird auch noch versorgt, wenn es nicht mehr geht. John hielt sich für einen solchen Schritt jedoch noch für zu jung und das mit einer festen Beziehung hatte noch Zeit. Kinder wollte er sowieso nicht. Und die Partnerbörsen im Netz boten genug Material, um die richtige Frau zu finden. Einige seiner Freunde waren dort schon fündig geworden und schwärmten ihm vor, wie einfach es wäre, für jede Gelegenheit etwas Passendes zu finden.
Vor vielen Jahren hatte er eine längere Beziehung gehabt, vielleicht war es seine erste große Liebe gewesen. Diese Frau war hübsch, allerdings kein Model. Sie träumte von einem glücklichen Leben mit ihm und gemeinsamen Kindern. Damals waren sie beide jung, hatten spinnerte Vorstellungen von der Zukunft, doch sie liebten sich. Zumindest ergriff ihn ein wenig Sehnsucht nach dieser Zeit, wenn er an diese Frau dachte. Er hatte sie verlassen, weil er im ersten Semester an der Universität die Tochter eines Unternehmers kennen gelernt hatte und sich erhoffte über die Beziehung zu ihr die nötigen Kontakte für eine Karriere nach dem Studium zu bekommen. Doch diese Liebesbeziehung zerbrach ziemlich schnell. Denn da er sie nicht liebte, vergnügte er sich auch noch mit anderen Kommilitoninnen. Sie machte ihm ständig Szenen, wenn er mal wieder bei einer anderen Frau sein Glück versucht hatte. Es kam natürlich zum großen Knall, seine große Liebe machte endgültig Schluss und ging zum Studium ins Ausland, weil sie ihn nicht mehr sehen wollte. Sie waren sich nie wieder begegnet. John überwand diesen Schock sehr schnell und tröstete sich mit den Schönsten aus seinem Semester. Er vergaß seine große Liebe. Nur manchmal, wenn er seine depressiven Stunden hatte, dachte er an sie. Dann surfte er im Worldwideweb herum, um vielleicht einen Hinweis auf sie zu finden. Doch sie hatte wahrscheinlich geheiratet und den Namen des Mannes angenommen, sodass er keine Spur fand, die zu ihr führte. Irgendwie tröstete es John, dass er sie nicht finden konnte.
Der Erfolg bei den Frauen war für John eine Bestätigung für sein Mannsein gewesen. Bekannte beneideten ihn, weil er immer irgendeine Freundin hatte. Und die Frauen, die er hatte, waren Güteklasse A. Mit Mädels, die zu dicke Beine, zu viel Speck, keinen knackigen Hintern oder zu wenig Busen hatten, gab er sich nicht ab. Und er fand immer eine, die aussah wie ein Model und um die ihn andere beneideten. Auch beruflich konnte er zufrieden sein. Freunde bewunderten ihn, weil er die besten Frauen hatte und einen Riesenerfolg in seinem Job. Seine Karriere verlief wie geschmiert und ihm machte sein Job auch noch Spaß. Sein Chef war ihm wohl gesonnen und die Kollegen waren - bis auf wenige - nette Leute. Nur das Gehalt hätte besser sein können, denn in den meisten Monaten waren seine Ausgaben höher als seine Einnahmen.
Die Email
Vor einigen Wochen nun hatte John diese merkwürdige Email bekommen, die ihn aus seiner Alltagslethargie aufweckte. Obwohl er nicht wusste, wer ihm diese Mail geschickt hatte, öffnete er sie und fand einen einfachen Satz: „Sie suchen den Kitzel und wünschen sich den Himmel auf Erden. Finden Sie Ihren Meister und beginnen Sie eine wunderbare Freundschaft. Mailen Sie Ihre Fragen: Jetzt!“ John dämmerte es, vor einiger Zeit hatte er in einer Zeitschrift eine Annonce gelesen. Es ging darin um Life-Coaching oder so etwas Ähnliches. Genau konnte er sich nicht mehr erinnern. Irgendwas hatte ihn angesprochen. Jedenfalls hatte er wohl eher aus Langeweile an die angegebene Adresse eine Mail geschickt.
Jetzt dachte er nur, warum nicht? Doch was wollte er wissen? Welche Fragen sollte er diesem Meister stellen? Genau! Er schrieb: Welche Fragen soll ich stellen? Und schickte die Mail ab. Mal gespannt, was dieser große Meister ihm antworten würde? Auch wenn er die Geschichte für schwachsinnig hielt, vielleicht machte es ja Spaß, so einen großen Meister hinters Licht zu führen. Er war auch gespannt, wie lange ihn ein solcher Meister auf die Antwort warten ließ.
John stellte seinen PC aus und hatte sich vorgenommen, noch ein wenig zu lesen. Aber er war mit seinen Gedanken nicht bei der Sache, er las eine Seite und wusste am Ende der Seite nicht mehr, was er gelesen hatte. John legte das Buch zur Seite und machte den Fernseher an. Vielleicht lief ja mal was Gescheites. Es war zum bekloppt werden. Was bildeten sich diese Fernsehfuzzis eigentlich ein, so einen blöden Mist zu senden? Da diskutierten irgendwelche abgehalfterten Politiker über Dinge, von denen sie keine Ahnung hatten. Auf dem anderen Sender sprachen, wenn man das überhaupt sprechen nennen kann, selbsternannte Promis über Dinge, die niemanden interessieren. Auf einem anderen Sender liefen Filme, die älter waren als er selbst. Waren denn die Zuschauer alle so blöd, sich diesen Mist anzuschauen?
Er schaltete den Fernseher aus und rief seinen besten Freund an. Mit dem konnte er so richtig gut ablästern. Sein Freund war genauso drauf wie er, sie steigerten sich zu wunderbaren Hasstiraden auf die geistig beschränkten Bürger des Landes, die korrupten Politiker und das dumme Stimmvieh. Danach ging es ihm besser. Es gab nur wenige Menschen, mit denen er so gut hassen konnte, wie mit seinem Freund. Sein Freund hatte sich durchgebissen. Er war ein mittelmäßiger Jurist geworden und bei einem großen Unternehmen in der Rechtsabteilung gelandet. Spaß machte ihm der Job nicht, nur wenn er mit fiesen Tricks anderen eine Falle stellen konnte, dann lebte er auf. Es war nichts Illegales, es war halt ein bisschen böse. Sein Freund lebte ebenso wie er als Single. Sie telefonierten manchmal über Stunden, um sich über ihre Erfahrungen mit den blöden Zeitgenossen auszutauschen.
Erst am nächsten Abend saß er wieder an seinem PC und rief die Mails ab. Die Antwort von seinem ominösen Meister war da. Sie musste sogar gestern schon abgeschickt worden sein. John hob sich diese Mail bis zum Schluss auf, erst wollte er die anderen Mails durchschauen. Es war nichts Besonderes dabei. Ein wenig gespannt öffnete er die Mail von Ihm: „Auf in den Kampf!“ stand dort nur. Sollte Er ihn durchschaut haben? Hatte der Meister erkannt, dass seine erste Frage ein Test sein sollte? John hatte Feuer gefangen. Er stand auf, ging im Zimmer umher und suchte eine Frage, die es in sich hatte. Schließlich schrieb er: Kann es nicht sein, dass eine fragende Haltung mich nicht weiter bringt? Wäre es nicht sinnvoller, Anregungen zu bekommen, damit ich meinem Leben wieder eine klare Richtung geben kann? John schickte die Mail ab und wenige Sekunden später hatte er schon die Antwort: „Ein guter Ansatz. Deshalb die erste Anregung: Drehe den Spieß nicht um, Du willst Orientierung! Reinige deinen Blick mit den Kräften deines Sarkasmus!“ John war geplättet. Wie konnte Er so schnell antworten? Und vor allem, wie konnte Er das mit dem Sarkasmus wissen? Er musste seine Strategie verändern. Sein Gegner schien endlich mal ein wirklicher Gegner zu sein. „Auf in den Kampf!“ dachte John, bisher hatte er die meisten Leute, mit denen er zu tun hatte, ausgetrickst. Neulich noch war es ihm gelungen, für seine Reise im letzten Jahr, eine Entschädigung zu erstreiten, weil eine Familie mit vier Kindern ihm angeblich die Urlaubsfreuden geraubt hätte. Das stimmte zwar nicht, er hatte sich sogar gut mit allen verstanden, doch wenn man irgendwie Geld raus holen kann, dann ist es einen Versuch wert. Jetzt war ihm allerdings überhaupt nicht klar, wie er angreifen könnte. Worum sollte es gehen? Was wäre der Sieg? Und hätte er Spaß daran, einen Gegner zu besiegen, der völlig anonym ist? John wollte seine Strategie umkehren. Was wäre, wenn er völlig offen über seine Gefühle und Gedanken berichtet? Was sollte ihm dabei schon passieren? Schnell installierte er eine Software, die seine Spuren verwischte. Durch Umleitungen etc. wäre es schwer, seine Identität zu entschlüsseln. Er ging sowieso immer mit anderen Nummern ins Netz. Nun fing er an zu schreiben.
John hatte sich die Finger auf der Tastatur wund getippt. Alles hatte er versucht, in Worte zu fassen, was er in den letzten Monaten gedacht und gefühlt hatte. Ganz genau beschrieb